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Nacht über Eden

Nacht über Eden

Titel: Nacht über Eden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: V.C. Andrews
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durch die das Sonnenlicht strömte, gewundene Pfade, die zu nebelumhüllten Gipfeln führte auf denen Schlösser standen, und darüber ein Himmel mit Vögeln und einem Mann, der auf einem fliegenden Teppich dahinschwebte. Aber alles Licht war aus dieser Märchenszenerie entschwunden, durch die jahrelange Vernachlässigung war alles grau und düster geworden und hatte eher die trostlose, traurige Atmosphäre längst vergangener Träume. Mich schauderte.
    »Deine Urgroßmutter hat dies alles gemalt, Annie. Nun weißt du, von wem du deine künstlerische Begabung geerbt hast. Sie war eine berühmte Kinderbuchillustratorin.«
    »Oh, wirklich?«
    »Ja«, antwortete er, und seine Augen nahmen einen abwesenden Ausdruck an. »So habe ich sie kennengelernt. Als ich zwanzig Jahre alt war, kam ich eines Tages vom Tennisspielen nach Hause. Ich schaute hier in den Salon herein und sah auf einer Leiter die bestgeformten Beine, die ich je erblickt hatte. Als dieses wunderbare Geschöpf die Leiter herunterkam und ich ihr Gesicht sah, erschien sie mir fast unwirklich. Sie war mit einem Innenarchitekten gekommen und hatte vorgeschlagen, diese Wandgemälde zu malen.
    ›Szenen aus Märchenbüchern für den König der Spielzeughersteller‹, so formulierte sie es, und ich war gleich Hals über Kopf in diese Idee verliebt.« Er blinzelte.
    »Außerdem hatte ich auf diese Weise einen Grund, sie wieder hierherkommen zu lassen.«
    »Was für eine wunderschöne, romantische Geschichte«, rief ich aus. Dann fiel mein Blick wieder auf den Flügel.
    »Wer spielt Klavier?« fragte ich neugierig.
    »Wie bitte?«
    »Spielst du Klavier, Tony?«
    »Ich? Nein. Mein Bruder hat früher gespielt, vor langer, langer Zeit«, erzählte er. Ich wandte mich nach ihm um, weil seine Stimme so leise geworden war. »Sein Name war Troy«, fuhr Tony fort, »wegen des Altersunterschiedes und weil unsere Eltern beide starben, als er kaum zwei Jahre alt war, war ich für ihn eher ein Vater als ein Bruder. Er spielte sehr gerne Klavier, vor allem Chopin. Er ist schon lange tot.«
    »Meine Mutter hörte gerne Chopin.«
    »Ach ja?«
    »Sie hat… sie hatte eine kleine Tatterton-Spielzeughütte«, erzählte ich. »Eine Spieldose, die ein Nocturne von Chopin spielt, wenn man das Dach aufmacht.«
    »Wirklich? Eine Spielzeughütte, sagst du?«
    »Ja, mit dem Labyrinth.«
    Weil er nicht reagierte, drehte ich mich nach ihm um. Er war neben den Rollstuhl getreten, damit er gemeinsam mit mir das Wohnzimmer betrachten konnte. Plötzlich konzentrierte sich sein abwesender Blick auf mich, und sein Gesicht veränderte sich. Seine Augen verengten sich, und seine Lippen begannen leicht zu zittern.
    »Tony?«
    »Oh, entschuldige bitte. Ich träumte wieder einmal vor mich hin. Ich habe gerade an meinen Bruder gedacht.«
    »Du mußt mir später unbedingt mehr von ihm erzählen.
    Versprichst du mir das?«
    »Natürlich.«
    »Ich bin auf dich angewiesen, Tony – du mußt mir alles, alles erzählen«, sagte ich. Ich hatte das Gefühl, daß jetzt endlich die Zeit dafür gekommen war. »Ich möchte jede Einzelheit über meine Familie erfahren – über meine Urgroßmutter, meine Großmutter und alles, was du von meiner Mutter weißt – aus der Zeit, als sie hier gelebt hat.«
    »Wenn ich dir das alles erzähle, wirst du dich sicher bald langweilen.«
    »Nein, gewiß nicht. Ich will alles wissen. Und noch etwas, Tony«, fügte ich voll Entschlossenheit hinzu, »ich möchte endlich erfahren, was der Grund dafür war, weshalb ihr beide, du und meine Mutter, nicht mehr miteinander gesprochen habt.
    Versprichst du mir, daß du nichts verschweigst, ohne Rücksicht darauf, daß es mir vielleicht wehtun könnte?«
    »Ich verspreche es dir, und du weißt, ich halte mein Wort.
    Aber laß uns erst noch eine Weile alle unangenehmen Dinge meiden, damit du bald wieder ganz gesund wirst.«
    »Ich kann warten. Du hast es mir ja versprochen.«
    »Gut«, sagte er heiter, »und jetzt geht es weiter nach oben.«
    Mrs. Broadfield war schon vor uns ins Obergeschoß gegangen, um in meinem Zimmer alles vorzubereiten. Miles wartete geduldig hinter uns. Tony gab ihm ein Zeichen, und er kam herbeigeeilt, um mich mit dem Stuhl hochzuheben. Dann trugen die beiden Männer mich mit vorsichtigen Schritten die ausladende Marmortreppe hinauf. Ich fühlte mich wie eine Königinwitwe, die in ihren Palast zurückkehrt.
    »Ich mache euch so viel Mühe«, sagte ich, als ich die Anstrengung in ihren Gesichtern sah.
    »Unsinn.

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