Nacht über Juniper
Shed schätzte, daß er mehr als fünfzig Leva gestohlen hatte, was ausgereicht hätte, um die Renovierung der Lilie zu vollenden. Das war kein verzeihlicher Griff in die Kasse gewesen. Er ließ einen zornigen Hagel von Schlägen auf den Mann niedergehen. Er trieb Wally hinter die Lilie, wo sie keine unerwünschten Zuschauer hatten. »Jetzt werde ich richtig sauer, Wally.«
»Shed, bitte…«
»Du hast mich bestohlen, und du lügst mich deshalb auch noch an. Ich könnte dir vielleicht verzeihen, wenn du es für deine Familie getan hättest. Aber das hast du nicht. Rede. Oder gib es mir zurück.« Er versetzte Wally einige harte Schläge. Seine Hände taten weh von den Schlägen. Die Schmerzen nahmen seiner Wut die Kraft. Aber da brach Wally zusammen. »Ich habe es beim Spielen verloren. Ich weiß ja, daß ich ein Dummkopf war. Aber ich war mir so sicher, daß ich gewinnen würde. Die haben mich ausge- nommen. Erst ließen sie mich glauben, daß ich einen großen Gewinn machen würde, dann haben sie mich ausgenommen, und der einzige Ausweg war das Stehlen. Sie hätten mich sonst umgebracht. Ich hab mir etwas von Gilbert geliehen, nachdem ich ihm erzählt habe, wie gut es dir geht…«
»Verloren? Beim Spielen? Von Gilbert geborgt?« knurrte Shed. Gilbert hatte Krages Gebiet übernommen. Er war genauso schlimm wie sein Vorgänger. »Wie konntest du nur so dumm sein?« Wieder überkam ihn die Wut. Er schnappte sich ein Brett von einem Haufen Abfall- holz, der verfeuert werden sollte. Er schlug damit auf Wally ein. Und noch einmal. Sein Vet- ter ging zu Boden, versuchte nicht einmal mehr, die Schläge abzuwehren. Als plötzlich die kalte Vernunft zurückkehrte, erstarrte Shed. Wally regte sich nicht mehr. »Wally? Wally? Hey, Wally. Sag doch was.« Wally antwortete nicht.
»Ach du Scheiße«, murmelte Shed. »Ich habe ihn umgebracht.« Das war’s wohl. Was jetzt? Im Stiefel gab es nur wenig Gerechtigkeit, aber die war rasch und hart. Man würde ihn sicher aufhängen.
Er hielt nach Zeugen Ausschau. Er sah niemanden. Sein Verstand raste gleichzeitig in ein- hundert Richtungen. Es gab einen Ausweg. Wenn es keine Leiche gab, dann gab es auch kei- nen Beweis, daß ein Mord stattgefunden hatte. Aber er war diesen Hügel noch nie allein hi- naufgefahren.
Hastig zerrte er Wally zu dem Holzhaufen und deckte ihn zu. Das Amulett, das er für den Zutritt zur Schwarzen Burg benötigte. Wo war es? Er flitzte in die Lilie, raste die Treppe hin- auf, fand das Amulett, sah es sich genauer an. Eindeutig ineinander verschlungene Schlangen. Die Nachbildung war erstaunlich detalliert. Winzige Edelsteine stellten die Augen der Schlangen dar. Bedrohlich funkelten sie in der Nachmittagssonne. Er stopfte sich das Amulett in die Tasche. »Shed, reiß dich zusammen. Wenn du in Panik gerätst, bist du so gut wie tot.«
Wie lange würde es dauern, bevor Sal nach der Obrigkeit brüllte? Sicher ein paar Tage. Also
war noch eine Menge Zeit.
Raven hatte ihm seinen Wagen und sein Gespann dagelassen. Er hatte nicht mehr daran ge- dacht, den Stallbesitzer weiter zu bezahlen. Hatte der Mann sie bereits verkauft? Wenn ja, dann saß er in der Patsche.
Er räumte seine Geldkisten aus, ließ die Lilie in Lisas Obhut zurück. Der Stallbesitzer hatte sie noch nicht verkauft, aber die Maultiere sahen mager aus. Shed be- schimpfte ihn.
»Soll ich sie vielleicht auf eigene Kosten durchfüttern, Meister?« Shed beschimpfte ihn noch ein wenig und bezahlte dann den ausstehenden Betrag. Er sagte: »Fütter sie. Und halte sie zur zehnten Stunde eingespannt bereit.« Den gesamten Nachmittag verbrachte Shed in einem Zustand der Panik. Vielleicht würde jemand Wally finden. Aber kein Mann des Gesetzes kam auf ihn zugestampft. Kurz nach Ein- bruch der Dunkelheit schlich er sich zum Stall. Er verbrachte die Fahrt abwechselnd im Zustand des Entsetzens und mit der Frage, wieviel Wally ihm wohl einbringen würde. Und wieviel er für den Wagen und das Gespann bekom- men konnte. Er hatte sie in seine vorherigen Berechnungen nicht mit einbezogen. Eigentlich sollte er Wallys Familie helfen. Das mußte er. Es war eine Sache des Anstands… Mittlerweile gab es zu viele Personen, die von ihm abhängig waren. Dann sah er das finstere Tor vor sich. Die Burg machte mit all ihren ungeheuerlichen Ver- zierungen einen schrecklichen Eindruck, aber sie schien seit seinem letzten Besuch nicht mehr gewachsen zu sein. Er klopfte an, wie Raven es getan hatte, und das Herz saß ihm in der Keh-
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