Nacht unter Tag
Studentenzeit kannte. Oder jemand, den sie in einer Galerie oder bei einer Ausstellung in Schottland getroffen hatte. Sie würde später Zeit haben, diesen Möglichkeiten auf den Grund zu gehen. Jetzt musste sie erst einmal Giulia aufmerksam zuhören.
»Ich glaube nicht. Ich glaube, sie kannten sich von früher her.«
Während sie noch sprach, kam Renata mit ihrem Laptop zurück. »Redest du von Matthias und Gabriels Vater? Es ist komisch. Es kam mir nicht so vor, als ob sie sich sehr mochten. Ich weiß nicht, warum ich das meine, aber es ist so. Es war mehr … kennen Sie das, wenn man den Kontakt zu jemandem hält, weil er der Einzige und Letzte ist, der die gleiche Vergangenheit hat? Man mag die Person vielleicht gar nicht so sehr, aber sie verbindet einen mit etwas, das wichtig war. Manchmal ist es die Familie, manchmal eine bestimmte Zeit im Leben, in der bedeutsame Dinge geschehen waren. Und man will sich diese Verbindung erhalten. So kam es mir vor, wenn ich sie zusammen sah.« Beim Sprechen flogen ihre Finger über die Tastatur und riefen eine Liste von Bildern auf. Sie rückte den Laptop so zurecht, dass Giulia und Bel den Bildschirm sehen konnten, dann stellte sie sich hinter sie und beugte sich vor, damit sie die Fotos nacheinander anklicken konnte.
Es sah aus wie die meisten Partys, bei denen Bel je gewesen war. Leute saßen an Tischen und tranken. Einige zogen Grimassen vor der Kamera. Man tanzte. Die Leute bekamen zunehmend gerötete Gesichter, und ihr Blick trübte sich und wurde verschwommener, je später es wurde. Die beiden Frauen aus Boscolata kicherten und stießen Ausrufe aus, aber sie fanden weder Gabriel noch seinen Vater auf den Fotos.
Bel hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben, als Giulia plötzlich mit einem Ausruf auf den Bildschirm deutete. »Da. Das in der Ecke ist Gabriel.«
Es war keine sehr deutliche Aufnahme, aber Bel glaubte nicht, dass sie es sich einbildete. Es lagen fünfzig Jahre zwischen ihnen, aber es war nicht schwer, die Ähnlichkeit zwischen diesem Jungen und Brodie Grant zu erkennen. Cats Züge waren eine Übertragung des auffälligen Aussehens ihres Vaters ins Weibliche gewesen. So unwahrscheinlich es schien, eine Kopie des Originals sah ihr von einer Silvesterparty in einem besetzten Haus in Italien entgegen. Die gleichen tiefliegenden Augen, die Papageiennase, das kräftige Kinn und der charakteristische dichte Haarschopf, nur blond statt silbergrau. Sie suchte in ihrer Handtasche und zog einen USB -Stick heraus.
»Darf ich mir das kopieren?«, fragte sie.
Renata hielt inne und sah nachdenklich aus. »Sie haben Giulias Frage nicht beantwortet, warum Sie so interessiert sind an diesem Jungen. Vielleicht sollten Sie es uns jetzt sagen.«
[home]
East Wemyss, Fife
R iver zog ihre Arbeitshandschuhe aus, reckte den Rücken und unterdrückte ein Ächzen. Bei der gemeinsamen Arbeit mit den Studenten durfte sie sich keine Schwäche anmerken lassen. Zugegebenermaßen waren sie ein Dutzend oder noch mehr Jahre jünger als sie, aber River war entschlossen, zu zeigen, dass sie mindestens genauso fit war. Die Studenten mochten sich also nach dem Schleppen von Felsbrocken und Schutt über Schmerzen in Armen und Rücken beklagen, aber sie musste ihren Auftritt als Superwoman durchhalten. Zwar hatte sie den Verdacht, dass die einzige Person, der sie das vorgaukeln konnte, sie selbst war, aber das machte nichts. Die Täuschung musste aufrechterhalten werden, weil sie sich selbst so sehen wollte.
Sie ging durch die Höhle zu drei Studenten, die den bei der Beseitigung der Felsbrocken anfallenden Schutt durchsiebten. Bis jetzt war nichts von archäologischem oder forensischem Interesse zutage gekommen, aber ihre Begeisterung schien unverändert stark. River erinnerte sich an ihre eigenen ersten Erkundungen. Schon allein die Beschäftigung mit einem wirklichen Fall war so aufregend gewesen, dass sie die Eintönigkeit einer langweiligen, anscheinend sinnlosen Aufgabe wettmachte. Sie sah ihre eigenen Reaktionen in diesen Studenten gespiegelt und war glücklich darüber, mitverantwortlich für das Engagement dieser nächsten Generation forensischer Ermittler zu sein, wenn sie mit ihrer Arbeit für die Toten eintraten.
»Etwas gefunden?«, fragte sie, als sie aus dem Schatten in die Helligkeit trat, die die zusammengekauerte Gruppe beschien.
Sie schüttelten die Köpfe und murmelten verneinende Antworten. Einer der Archäologie-Doktoranden sah auf. »Wenn die Arbeiter mit dem
Weitere Kostenlose Bücher