Nacht unter Tag
trinken, wie immer, wenn sie nicht wegen einer Aufführung schon früh losmussten. Und alles war leer und verlassen. Als hätten sie alles, was ihnen unterkam, einfach in die Autos geworfen und wären losgefahren. Ich habe von dem Dreckskerl Dieter seitdem nichts mehr gehört.«
»Wann war das?«, erkundigte sich Bel.
»Ende April. Wir hatten Pläne für den Maifeiertag, aber das wurde alles nichts.« Giulia war offensichtlich immer noch stinksauer.
»Wie viele Personen waren dort?«, wollte Bel wissen. Gemeinsam zählten Giulia und Renata sie an den Fingern auf. Dieter, Maria, Rado, Sylvia, Matthias, Peter, Luka, Ursula und Max. Eine schillernde Mischung aus allen Gegenden Europas. Ein bunter Haufen, der auf den ersten Blick nichts mit Cat Grant zu tun zu haben schien. »Was haben sie dort gemacht?«, fragte sie.
Renata lächelte. »Ich nehme an, man würde sagen, sie haben sich den Wohnraum ausgeliehen. Sie sind letztes Frühjahr in zwei schäbigen alten Kleinbussen und einem protzigen Wohnmobil angekommen und einfach eingezogen. Sie waren sehr freundlich, sehr gesellig.« Sie zuckte mit den Schultern. »Wir sind hier in Boscolata alle ein bisschen alternativ. Der Ort war verfallen, bis ein paar von uns in den siebziger Jahren illegal einzogen. Nach und nach kauften wir die Häuser und haben sie so wieder hergerichtet, wie Sie sie jetzt sehen. Wir waren also ziemlich verständnisvoll gegenüber unseren neuen Nachbarn.«
»Sie wurden unsere Freunde«, erzählte Giulia. »Die Carabinieri sind bescheuert, so zu tun, als wären sie Kriminelle oder so etwas Ähnliches.«
»Sie sind also einfach so aufgetaucht? Woher wussten sie von dem Haus?«
»Rado hatte vor zwei Jahren unten im Tal einen Job in der Zementfabrik. Er erzählte mir, dass er manchmal im Wald spazieren gegangen sei und dabei auf die Villa gestoßen war. Als sie also dann eine Unterkunft brauchten, die von den wichtigen Städten in diesem Teil der Toskana aus erreichbar war, erinnerte er sich an das Haus, und sie kamen und blieben hier«, berichtete Giulia.
»Was genau haben sie denn gemacht?«, hakte Bel nach, die eine unmittelbar mit ihren Nachforschungen zusammenhängende Verbindung zur Vergangenheit suchte.
Renata sagte: »Sie hatten ein Puppentheater.« Sie schien überrascht, dass Bel das nicht wusste. »Marionetten. Straßentheater. Während der Touristensaison hatten sie feste Standplätze. In Florenz, Siena, Volterra, San Gimignano, Greve, Certaldo Alto. Sie gingen auch zu Festen. Jedes Städtchen in der Toskana hat ein Fest für irgendetwas – Steinpilze, antike Schneidemaschinen für Salami, altmodische Traktoren. Also spielte BurEst überall, wo sich ein Publikum fand.«
»BurEst? Wie schreibt man das?«, wollte Bel wissen.
Renata erklärte: »Es ist die Abkürzung für Burattinaio Estemporaneo. Sie improvisierten viel.«
»Das Poster von der Villa, das schwarzweiße Bild von einem Puppenspieler mit ziemlich merkwürdigen Marionetten, haben sie das als Werbung genutzt?«, fragte Bel.
Renata schüttelte den Kopf. »Nur für besondere Aufführungen. Ich habe nur einmal gesehen, dass sie es verwendeten, als sie eine Vorführung in Colle Val d’Elsa zu Allerseelen hatten. Meistens nahmen sie eines mit leuchtenden Farben, so in der Art der Commedia dell’Arte. Eine moderne Variante der traditionellen Puppenspielbilder. Es spiegelte ihr Spiel besser wider als das schwarzweiße Poster.«
»Waren sie erfolgreich?«, erkundigte sich Bel.
»Ich glaube, sie kamen gut klar«, antwortete Giulia. »Den Sommer, bevor sie hierherkamen, waren sie in Südfrankreich gewesen. Dieter sagte, in Italien könne man besser arbeiten. Er meinte, die Touristen seien offener, und die Einheimischen tolerierten sie eher. Sie verdienten nicht wahnsinnig viel, aber es war in Ordnung. Sie hatten immer genug zu essen, jede Menge Wein auf dem Tisch und luden alle ein.«
»Da hat sie recht«, pflichtete Renata bei. »Sie waren keine Schnorrer. Wenn sie zu Hause bei einem aßen, dann war man das nächste Mal bei ihnen eingeladen.« Ein Mundwinkel zog sich nach unten. »Das ist in diesen Kreisen nicht so häufig, wie man denken würde. Es wird viel über Teilen und Gemeinschaft geredet, aber meistens sind die Typen noch egoistischer als die Leute, die sie verachten.«
»Außer Ursula und Matthias«, wandte Giulia ein. »Sie blieben mehr für sich und waren nicht so gesellig wie die anderen.«
Renata lachte. »Das kommt daher, dass Matthias meinte, er hätte das
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