Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nacht unter Tag

Nacht unter Tag

Titel: Nacht unter Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
Vom Netzwerk:
seinem zusammen. Aber als sie ihn auf dem Rückweg von Peterhead anrief, hatte er schon zwei Gläser Wein getrunken. »Ich bin wahrscheinlich noch unter der Promillegrenze, aber gerade so«, hatte er gesagt. »Willst du hierherkommen, zu mir nach Haus? Du kannst mir helfen, meine Vorhänge fürs Wohnzimmer auszuwählen.«
    Karen sah das Haus, das sie suchte, und parkte auf der anderen Straßenseite gegenüber von Phils Einfahrt. Sie blieb einen Moment lang still sitzen, denn sie hatte die Angewohnheit aller Polizisten, ihre Umgebung genau zu mustern, bevor sie sich entschied, auszusteigen. Es war eine stille, bescheidene Straße mit soliden, kompakten, aus Stein gebauten Doppelhäusern, die anscheinend noch so intakt waren wie zu ihrer Bauzeit am Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Kieseinfahrten und ordentliche Blumenbeete. In den oberen Stockwerken, wo die Kinder schliefen, waren die schweren gefütterten Vorhänge zugezogen, um sie vom aufdringlichen Tageslicht abzuschirmen. Sie wusste noch, wie schwer es ihr als Kind gefallen war, an hellen Sommerabenden Schlaf zu finden. Denn ihre Vorhänge waren dünn, und in ihrer Straße hallten Musik und Gespräche vom Pub an der Ecke wider. Nicht wie hier. Man konnte kaum glauben, dass die Stadtmitte zu Fuß nur fünf Minuten weg war. Die Gegend kam einem wie die weitentfernte Vorstadt vor.
    Vom Geräusch ihres Wagens aufmerksam geworden, öffnete Phil die Haustür, bevor Karen ausgestiegen war. Seine Gestalt hob sich gegen das Licht hinter ihm ab, was ihn größer erscheinen ließ. Seine Haltung sah lässig und zugleich bedrohlich aus wie bei einem Rauswerfer. Er hatte einen Arm erhoben und lehnte damit am Türrahmen, ein Bein überkreuzte am Fußgelenk das andere, der Kopf war zur Seite geneigt. Aber es war nichts Einschüchterndes in seinem Gesichtsausdruck. Seine runden dunklen Augen glänzten im Licht, und beim Lächeln legten sich die Wangen in Fältchen. »Komm rein«, begrüßte er sie, trat zurück und ließ sie vorbei.
    Sie betrat den perfekten Nachbau einer viktorianisch gefliesten Diele, Quadrate aus Terrakotta, unterbrochen von weißen, blauen und dunkelroten Rauten. »Sehr schön«, befand sie und bemerkte die Wandpaneele mit der Stiltapete.
    »Die Freundin meines Bruders ist Kunsthistorikerin, Schwerpunkt Architektur. Sie hat sich hier ausgetobt. Bis sie damit fertig ist, wird es aussehen wie beim Denkmalschutz«, nörgelte er gutmütig. »Bieg am Ende des Flurs rechts ab.«
    Karen brach in Gelächter aus, als sie den Raum betrat. »Herrgott noch mal, Phil«, kicherte sie. »Hier sieht’s ja aus wie in der Bibliothek mit dem Heizungsrohr von Colonel Mustard aus
Alle Mörder sind schon da
. Du solltest einen Hausrock tragen, kein Fußballtrikot von Kirkcaldy.«
    Er zuckte kleinlaut mit den Schultern. »Du musst auch das Lustige daran sehen. Ich als Polizist – mit dem perfekten Leiche-in-der-Bibliothek-Szenario im eigenen Haus.« Er deutete auf die dunklen Holzregale, den Schreibtisch mit Lederauflage und die Clubsessel, die zu beiden Seiten des aufwendigen Kamins standen. Der Raum war offensichtlich sowieso nicht besonders groß, aber mit dieser Ausstattung wirkte er definitiv vollgestopft. »Sie sagte, diese Einrichtung sei das, was der Hausherr damals gehabt hätte.«
    »In einem Haus dieses Formats?«, spöttelte Karen. »Ich glaube, sie ist größenwahnsinnig. Und ich kann auch kaum glauben, dass er sich für den Teppich im Schottenkaro entschieden hätte.«
    Seine Ohren röteten sich, so verlegen war er. »Anscheinend ist das postmoderne Ironie.« Er hob skeptisch die Augenbrauen. »Aber es ist nicht ganz so, wie es auf den ersten Blick scheint«, sagte er und wurde munterer, als er sich an einem der Bücher zu schaffen machte. Ein Teil der Regalwand öffnete sich, und ein Flachbildfernseher kam zum Vorschein.
    »Gott sei Dank«, seufzte Karen. »Ich hab mich schon gewundert. Kein bisschen wie deine alte Wohnung, oder?«
    »Ich glaube, ich bin über das Alter und den Lebensstil eines Halbstarken hinaus«, antwortete Phil.
    »Zeit, sich häuslich einzurichten?«
    Er zuckte mit den Schultern, vermied aber, ihr in die Augen zu sehen. »Vielleicht.« Er zeigte auf einen Stuhl und ließ sich auf dem nieder, der gegenüberstand. »Wie war’s mit Lawson?«
    »Ein anderer Mensch. Und nicht im positiven Sinn. Ich habe auf dem Rückweg darüber nachgedacht. Er war immer ein harter Kerl gewesen. Allerdings glaubte ich, seine Motive seien in Ordnung, bis zu dem

Weitere Kostenlose Bücher