Nacht unter Tag
Siena war, sah ich Matthias, der mit Gabe vom Bahnhof kam. Matthias war ein paar Tage weg gewesen. Ich hatte nichts Besseres zu tun, da bin ich ihnen gefolgt. Sie gingen durch die Stadt zum Parkplatz an der Porta Romana und kamen in Matthias’ Lieferwagen herausgefahren.«
»Haben sie miteinander geredet? Sah es aus, als würden sie sich gut verstehen?«
»Sie kamen mir ziemlich deprimiert vor, hielten die Köpfe gesenkt und sagten kaum etwas. Nicht unbedingt feindselig. Nur, als wären sie beide über etwas verärgert.«
»Hast du sie noch einmal gesehen? Hier in der Gegend?«
Der Junge zuckte plötzlich leicht mit der Schulter. »Ich bin ihnen nicht mehr begegnet. Aber als ich zurückkam, war Matthias’ Wagen da. Die anderen waren alle nach Grosseto, um eine Sondervorstellung zu geben. Das sind gut zwei Stunden Fahrt, sie waren also schon weg, als ich zurückkam. Ich habe einfach angenommen, dass Matthias und Gabe im Haus waren.« Er grinste frech. »Was auch immer sie da getrieben haben.«
Nach dem Blut auf dem Boden zu urteilen, dachte Bel, war es nichts so Vergnügliches wie das, was sich der phantasielose junge Mann vorstellte. Bedeutender war die Frage, wessen Blut es war. Waren die BurEst-Leute geflohen, weil sie bei ihrer Rückkehr ihren Anführer tot in seinem Blut liegend vorfanden? Oder waren sie weggelaufen, weil ihr Anführer Gabriels Blut an den Händen hatte? »Danke«, sagte sie, wandte sich ab und füllte ihr Glas wieder auf, das nebenbei wie von selbst leer geworden war. Sie entfernte sich schlendernd von der plaudernden Menge und ging am Rand des Weinbergs entlang. Ihr junger Informant hatte ihr einigen Stoff zum Nachdenken gegeben. Matthias war ein paar Tage weg gewesen. Er kam mit Gabriel zurück. Die beiden waren allein in der Villa. Im Lauf des Vormittags war die ganze Truppe eiligst verschwunden, wobei sie einen großen Blutfleck auf dem Boden und die gleichen Poster zurückließen, die früher vom Anarchistischen Kampfbund Schottlands benutzt worden waren.
Man brauchte kein großer Detektiv zu sein, um zu kapieren, dass etwas ganz schrecklich schiefgegangen war. Aber wer war betroffen? Und, vielleicht noch wichtiger, warum?
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East Wemyss
S
ommer in Schottland,
dachte Karen mit Bitterkeit, als sie den Weg zu Thane’s Cave hinunterkletterte. Um neun war es noch hell, und ein feiner Nieselregen durchnässte ihre Kleider, während sie von Stechmücken attackiert wurde, als gäbe es kein Morgen. Sie sah sie als Wolke um Phils Kopf herumschwirren, als sie ihm zum Strand hinunterfolgte. Sie war sicher, dass diese Plage heutzutage schlimmer war als in ihrer Kindheit. Verflixter Klimawandel. Die kleinen Biester wurden immer boshafter und das Wetter immer schlechter.
Als der Pfad ebener wurde, sahen sie zwei von Rivers Studenten zusammengekauert unter einer Klippe hocken und sich eine heimliche Zigarettenpause genehmigen. Wenn sie sich in den Gegenwind stellen würde, könnte der Rauch vielleicht die Mücken um sie herum vertreiben. Hinter ihnen ging River auf und ab, das Handy am Ohr, den Kopf gesenkt und das lange dunkle Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der aus ihrer Baseballkappe herausbaumelte. Mehr als der Regen ließ Karen das Schimmern von Rivers weißem Overall frösteln. Die Anthropologin drehte sich um, sah sie und beendete schleunigst ihr Gespräch. »Ich habe Ewan nur gesagt, er soll mich besser erst in ein paar Tagen zurückerwarten«, sagte sie betrübt.
»Was hast du gefunden?«, wollte Karen wissen, die es so eilig hatte, etwas zu erfahren, dass sie jede Höflichkeit vergaß.
»Kommt rein, und ich zeige es euch.«
Sie folgten ihr in die Höhle, wo die Arbeitslampen ein abstraktes Muster aus Dunkelheit und Licht schufen, an das man sich erst einen Moment lang gewöhnen musste. Die Studenten, die die Felsbrocken weggeräumt hatten, machten Pause, saßen herum, aßen Sandwichs und tranken Erfrischungsgetränke aus Dosen. Karen und Phil zogen ihre Blicke wie Magneten an, sie ließen die Polizisten nicht mehr aus den Augen.
River ging voran zu der Stelle, wo der Einsturz den Tunnel blockiert hatte. Fast alle größeren Brocken und kleinen Steine waren beiseitegeschafft und eine schmale Öffnung freigelegt worden. Sie fuhr mit einer starken Taschenlampe über das restliche Geröll und zeigte, dass der Einbruch nur etwa einen Meter zwanzig tief war. »Wir waren überrascht, als wir herausfanden, wie geringfügig diese Verschüttung ist. Wir hätten erwartet,
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