Nacht unter Tag
ausdrücken soll. Seit Jahren weiß ich, wo er ist. Und dass er nichts mehr mit uns zu tun haben will.«
»Aber warum haben Sie es dann geheim gehalten? Warum erfahre ich erst jetzt davon? Verstehen Sie nicht, was es bedeutet, die Arbeitszeit der Polizei zu vergeuden?« Karen war sich bewusst, dass sie fast schrie, aber es war ihr egal.
»Ich wollte nicht, dass Misha sich aufregt. Wie würden Sie sich fühlen, wenn Ihnen jemand erzählte, Ihr Vater wollte nichts mit Ihnen zu tun haben? Das sollte ihr erspart bleiben.«
Karen starrte sie verunsichert an. Jennys Stimme und Ausdruck waren überzeugend. Aber Karen konnte es sich nicht leisten, ihr einfach unbesehen zu glauben. »Und Luke? Sie wollen doch sicher alles tun, um ihn zu retten? Hat Misha nicht das Recht, um seine Hilfe zu bitten?«
Jenny sah sie verächtlich an. »Meinen Sie, ich habe ihn nicht schon gefragt? Angefleht habe ich ihn. Ich habe ihm Fotos vom kleinen Luke geschickt, damit er es sich noch mal überlegt. Aber er sagte einfach, der Junge hätte nichts mit ihm zu tun.« Sie sah weg. »Ich glaube, er hat jetzt eine neue Familie. Wir sind ihm nicht wichtig. Männer scheinen so etwas besser zu können als Frauen.«
»Ich werde mit ihm reden müssen«, bemerkte Karen.
Jenny schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall.«
»Hören Sie, Mrs.Prentice.« Karen wurde immer gereizter. »Ein Mann ist als vermisst gemeldet worden. Sie behaupten, er ist nicht verschollen, aber ich habe nur Ihre Aussage. Ich brauche eine Bestätigung für das, was Sie sagen. Sonst würde ich meine Arbeit nicht richtig erledigen.«
»Und was passiert dann?« Jenny packte den Rand des Tisches. »Was antworten Sie, wenn Misha Sie fragt, wie die Ermittlung läuft? Lügen Sie sie an? Gehört das zu Ihrer Arbeit? Lügen Sie sie an und hoffen, dass sie später nie die Wahrheit von einem anderen Polizisten erfährt? Oder sagen Sie ihr die Wahrheit und lassen Mick ihr noch einmal das Herz brechen?«
»Es ist nicht meine Aufgabe, diese Entscheidungen zu fällen. Ich muss die Wahrheit herausfinden, was danach kommt, liegt nicht mehr in meiner Macht. Sie müssen mir sagen, wo Mick ist, Mrs.Prentice.« Karen wusste, dass es schwer war, ihr zu widerstehen, wenn sie die ganze Kraft ihrer Persönlichkeit einsetzte. Aber diese trotzige kleine Frau wusste sich zu behaupten.
»Ich sage Ihnen nur, dass Sie Ihre Zeit verschwenden, wenn Sie eine Person suchen, die nicht vermisst wird. Stecken Sie es auf, Inspector. Lassen Sie es einfach sein.«
Etwas an Jenny Prentice’ Worten klang unglaubwürdig. Karen war sich nicht sicher, was es war, aber bis sie das festmachen konnte, würde sie keinen Zentimeter nachgeben. Sie stand auf und nahm demonstrativ ihre Akten auf. »Ich glaube Ihnen nicht. Und Sie kommen sowieso zu spät, Jenny«, erklärte sie und wandte sich ihr wieder zu. »Wir haben eine Leiche gefunden.«
Sie hatte darüber gelesen, wie plötzlich alle Farbe aus dem Gesicht eines Menschen weichen kann, hatte es aber nie zuvor gesehen. »Das kann nicht stimmen«, flüsterte Jenny.
»Doch, es stimmt, Jenny. Und die Stelle, an der wir sie dank Ihrer Angaben gefunden haben, ist ein Ort, an dem sich Mick oft aufhielt.« Karen öffnete die Tür. »Wir sprechen uns noch.«
Sie wartete ungeduldig, bis Jenny sich gefasst hatte und auf die Tür zuwankte, eine Frau, die durch ihre Worte niedergeschmettert war. Ausnahmsweise hatte Karen wenig Mitgefühl. Was immer Jenny Prentice’ Motive für diesen kleinen Auftritt sein mochten, Karen wusste jetzt jedenfalls sicher, dass es nur ein Auftritt gewesen war. Jenny hatte genau wie Karen selbst nicht die geringste Ahnung, wo Mick Prentice war.
Jetzt musste sie nur noch herausfinden, warum es Jenny so wichtig war, dass die Polizei die Suche einstellte. Eine weitere Begegnung und ein weiteres Rätsel. Sie schienen dieser Tage immer Hand in Hand zu gehen. Es gab Wochen, da konnte man nicht mal für Geld eine klare Antwort bekommen.
»Aber das ist ja eine phantastische Neuigkeit, Inspector.« Karen Piries Berichte lösten bei Simon Lees nicht oft Zufriedenheit aus, geschweige denn Begeisterung. Aber er konnte die Tatsache nicht verbergen, dass er über das, was sie ihm heute gesagt hatte, doppelt erfreut war. Sie hatten nicht nur eine Leiche gefunden, die einen seit über zwanzig Jahren ruhenden Fall voranbringen würde, sondern sie hatten dabei auch noch Geld gespart.
Dann kam ihm ein schrecklicher Gedanke. »Ist es das Skelett eines Erwachsenen?«,
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