Nacht unter Tag
nicht lohnte, sich um etwas zu kümmern, was die feine Gesellschaft nie zu Gesicht bekam. Aber auf der Schwelle dieses bestimmten Häuschens vermutete Karen, dass Effie Reekie, wäre sie in einem elenden Loch gelandet, selbst das in ein kleines Paradies verwandelt hätte. Die Haustür sah aus, als wäre sie gerade an diesem Morgen abgewischt worden, in den Blumenkästen am Fenster war keine einzige vertrocknete Blüte, und die Gardinen hingen in perfekten Falten. Sie fragte sich, ob Effie und ihre Mutter möglicherweise Zwillinge waren, die man bei der Geburt getrennt hatte.
»Klopfst du jetzt an – oder was?«, wollte Phil wissen.
»Entschuldigung, ich hatte kurz ein Déjà-vu-Erlebnis oder so was.« Karen drückte auf den Klingelknopf und bekam sofort ein schlechtes Gewissen, darauf einen Fingerabdruck zu hinterlassen.
Die Tür ging fast augenblicklich auf. Das Gefühl, sich in einer Zeitschleife zu befinden, hielt an. Karen hatte seit dem Tod ihrer Großmutter keine Frau mit einem Kopftuch gesehen, das wie ein Turban um das Haar gewunden war. Mit ihrer Kittelschürze und den hochgekrempelten Ärmeln glich Effie Reekie einer Rentnerinnenversion von Rosie the Riveter, die im Amerika des Zweiten Weltkriegs als Symbol für die in den Fabriken arbeitenden Frauen galt. Sie musterte Karen von oben bis unten, als wolle sie einschätzen, ob sie reinlich genug war, über die Schwelle zu treten. »Ja?«, fragte sie. Es klang nicht gerade einladend.
»Wir müssen mit Ihnen sprechen«, erklärte Karen behutsam, denn sie spürte, wie verletzlich die alte Frau war und wie verzweifelt sie das zu verbergen versuchte.
»Nein, das geht nicht«, widersprach Effie.
Phil trat vor. »Mrs.Reekie«, schmeichelte er, »selbst wenn Sie uns nichts zu sagen haben, wäre ich Ihr Freund fürs Leben, wenn Sie uns vielleicht eine Tasse Tee machen könnten. Meine Kehle ist so trocken wie die Sahara.«
Sie zögerte und sah mit ängstlichem Blick vom einen zum anderen. Ihr Gesicht verzog sich bei dem Widerstreit von Gastfreundschaft und Hilflosigkeit. »Dann kommen Sie rein«, gab sie schließlich nach. »Aber ich habe Ihnen nichts zu sagen.«
Die Küche war makellos sauber. River hätte auf dem Tisch eine Autopsie durchführen können, ohne eine Verunreinigung befürchten zu müssen. Karen war erfreut zu sehen, dass sie richtig geraten hatte. Genau wie ihre Mutter verstand Effie Reekie jede zur Verfügung stehende Oberfläche als Platz für Zierat und Nippes. Karen sah darin eine verantwortungslose Verschwendung der Ressourcen des Planeten. Sie wollte gar nicht daran denken, wie viel Schrott sie von Schulausflügen mit nach Hause gebracht hatte. »Sie haben eine wunderschöne Wohnung«, sagte sie.
»Ich habe mich immer angestrengt, dass es gut aussieht«, entgegnete Effie, während sie sich am Wasserkocher zu schaffen machte. »Ben habe ich nie erlaubt, im Haus zu rauchen. Das war mein Mann, Ben. Er ist jetzt schon fünf Jahre tot, aber er war jemand in der Gegend hier. Alle kannten Ben Reekie. Die Scherereien auf den Straßen würde es jetzt nicht geben, wenn mein Ben noch lebte. Auf keinen Fall. Das gäbe es nicht.«
»Über Ben müssen wir mit Ihnen reden, Mrs.Reekie«, erklärte Karen.
Sie drehte sich wie ein Kaninchen vor hellen Scheinwerfern mit aufgerissenen Augen um. »Es gibt nichts zu reden. Er ist seit fünf Jahren tot. Es war Krebs. Lungenkrebs. Jahrelang geraucht. Jahrelang zu Ausschusssitzungen gegangen, alle haben geraucht wie die Schlote.«
»Er war Sekretär des Regionalbüros, oder?«, fragte Phil. Er studierte eine Reihe verzierter Teller an der Wand. Sie stellten verschiedene Meilensteine in der Gewerkschaftsgeschichte dar. »Ein wichtiger Job, besonders während des Streiks.«
»Er liebte die Arbeiter«, bestätigte Effie leidenschaftlich. »Für seine Männer hätte er alles getan. Es brach ihm das Herz, zu sehen, wie dieses Miststück Thatcher sie in die Knie gezwungen hat. Und Scargill.« Sie brachte in klappernden Tassen ihren Tee zum Tisch. »Ich hatte nie was übrig für König Arthur. Ins Tal des Todes, da hat er sie hingeführt. Es wäre anders gewesen, wenn Mick McGahey den Laden geschmissen hätte. Eine ganz andere Geschichte wär es gewesen. Er empfand Respekt für die Leute. Wie mein Ben. Er respektierte seine Männer.« Sie warf Karen einen fast schon verzweifelten Blick zu.
»Das verstehe ich, Mrs.Reekie. Aber es ist Zeit, mit den Missverständnissen aufzuräumen.« Karen wusste, dass sie ein
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