Nacht unter Tag
Risiko einging. Mick Prentice hätte sich täuschen können. Ben Reekie hatte vielleicht seine Taten für sich behalten. Und Effie Reekie war vielleicht entschlossen, nicht darüber nachzudenken, wie ihr Mann das Vertrauen der Männer verletzt hatte, die er zu lieben vorgab.
Effies ganzer Körper schien sich zu verkrampfen. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« Die schrille abschlägige Antwort machte die beabsichtigte Täuschung offensichtlich.
»Ich glaube doch, Effie«, entgegnete Phil, der sich zu den beiden Frauen am Tisch setzte. »Ich glaube, dass es schon lange an Ihnen nagt.«
Effie schlug die Hände vors Gesicht. »Gehen Sie«, flehte sie, und ihre Worte klangen gedämpft. Sie zitterte jetzt wie ein frisch geschorenes Schaf.
Karen seufzte. »Es war bestimmt nicht leicht für Sie. Zu sehen, wie schwer es alle hatten, während es Ihnen gutging.«
Effie wurde ganz still und nahm die Hände vom Gesicht. »Was reden Sie da?«, fragte sie. »Sie denken doch wohl nicht, dass er es für sich behalten hat?« Die Beleidigung hatte ihr Kraft gegeben. Entweder das, oder sie war dadurch leichtsinnig geworden.
Mist, Mist, Mist
. Karen wurde klar, dass sie die Situation völlig falsch eingeschätzt hatte. Aber wenn ihr das passiert war, hatte das auch anderen passieren können. Zum Beispiel Mick Prentice. Mick Prentice, dessen bester Freund, ein Gewerkschaftsfunktionär, sich vielleicht sogar mitschuldig gemacht hatte bei dem, was Ben Reekie tat. Ihre Gedanken jagten einander, aber sie zwang sich, zu dem Gespräch zurückzukehren.
»Natürlich denken wir das nicht«, beteuerte Phil »Karen meinte nur die Tatsache, dass Ihnen noch ein Lohn ausgezahlt wurde.«
Effie sah die beiden unsicher an. »Er hat es erst getan, als sie anfingen, die Gewerkschaftsgelder zu beschlagnahmen«, erklärte sie. Die Worte kamen heraus, als sei es eine Erleichterung, sie loszulassen. »Er sagte, was für einen Sinn hätte es, Geld ans Regionalbüro abzugeben, wenn sie es doch nur an die Zentrale weiterschicken mussten. Er war der Überzeugung, Geld, das hier in der Gegend gesammelt wurde, sollte den Bergarbeitern bei uns zugutekommen und nicht auf Nimmerwiedersehen im Nirgendwo verschwinden.« Sie brachte ein klägliches Lächeln zustande. »Das hat er immer gesagt. ›… nicht auf Nimmerwiedersehen im Nirgendwo verschwinden.‹ Er hat nur hier und da etwas genommen, nicht so viel, dass die da oben es hätten merken können. Und beim Verteilen war er sehr vorsichtig. Er ließ Andy Kerr die Bittbriefe an die Wohlfahrt durchgehen und gab es an diejenigen weiter, die es am dringendsten brauchten.«
»Hat jemand etwas gemerkt?«, fragte Phil. »Hat ihn jemand dabei erwischt?«
»Was glauben Sie denn? Sie hätten ihn sofort aufgehängt und nachher Fragen gestellt. Die Gewerkschaft war unantastbar. Er wäre nie heil davongekommen, wenn irgendjemand auch nur einen Verdacht geschöpft hätte.«
»Aber Andy wusste es.« Karen war noch nicht bereit, aufzugeben.
»Nein, nein, er wusste nichts davon. Ben hat nie gesagt, dass er ihnen Geld gab. Er hat Andy nur aufgetragen, die Briefe zu sortieren, angeblich für die Nothilfe vom Regionalbüro. Nur gab es eben zu der Zeit keine Hilfe mehr vom Regionalbüro, weil alle Mittel an die Landeszentrale gingen.« Effie rieb ihre Hände aneinander, als täten sie weh. »Er wusste, dass er niemandem trauen konnte. Verstehen Sie, selbst wenn sie geglaubt hätten, dass er es für die Männer und ihre Familien tat, hätten sie es trotzdem als Verrat angesehen. Die Gewerkschaft sollte für alle an absolut erster Stelle stehen, besonders für die Funktionäre. Was er tat, wäre unverzeihlich gewesen. Und das wusste er.«
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San Gimignano
B el fand endlich eine Bar, die nicht voller Touristen war. Sie lag versteckt in einer kleinen Nebenstraße, und die einzigen Gäste waren ein halbes Dutzend alter Männer, die Karten spielten und dunkelroten Wein aus kleinen Gläsern tranken. Sie bestellte einen Espresso und ein Wasser und setzte sich neben die offene Hintertür, die auf einen winzigen gepflasterten Hof hinausging.
Ein paar Minuten lang schaute sie sich den Katalog an, den sie in der Galerie mitgenommen hatte. Daniel Porteous war ein Künstler gewesen, mit dessen Bildern sie gut hätte leben können. Aber wer zum Teufel war er gewesen? Wie war sein Werdegang? Und hatten sich seine und Cats Wege wirklich gekreuzt, oder war Bel dabei, zu voreilig an die Sache heranzugehen? Nur weil Daniel Porteous Maler
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