Nacht unter Tag
dass es wie ein einziger Ausdruck klang.
Bel sagte ihr Sprüchlein auf. Nach ein paar Sätzen schlug die Frau die Hand vor den Mund, und ihre Augen weiteten sich vor Schreck. »Oh, mein Gott«, rief sie. »Daniel. Sie meinen Daniel?«
Bel zog die Ausdrucke heraus und zeigte sie der Frau. Sie sah aus, als werde sie gleich in Tränen ausbrechen. »Das ist Daniel«, wiederholte sie. Sie streckte die Hand aus und berührte Gabriels Kopf mit den Fingerspitzen. »Und Gabe. Der arme, liebe Gabe.«
»Ich verstehe nicht«, gestand Bel. »Gibt es ein Problem?«
Die Frau bebte und atmete tief ein. »Daniel ist tot«, erklärte sie. Sie breitete die Hände aus, eine Geste des Kummers. »Er ist im April gestorben.«
Jetzt war Bel an der Reihe, schockiert zu sein. »Was ist geschehen?«
Die Frau lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und fuhr sich durch ihr lockiges schwarzes Haar. »Schilddrüsenkrebs. Kurz vor Weihnachten bekam er die Diagnose. Es war schrecklich.« Tränen glitzerten in ihren Augen. »So etwas hätte ihm nicht geschehen sollen. Er war … er war so ein guter Mann. Sehr sanft, sehr zurückhaltend. Und er liebte seinen Sohn so sehr. Gabes Mutter starb bei seiner Geburt. Daniel hat ihn allein aufgezogen und seine Sache sehr gut gemacht.«
»Das tut mir sehr leid«, sagte Bel. Zumindest war das Blut auf dem Boden der Villa Totti nicht das von Daniel. »Ich hatte keine Ahnung, hatte nur von diesem phantastischen britischen Künstler gehört, der seit Jahren hier lebt. Ich wollte ein Feature über ihn schreiben.«
»Kennen Sie seine Arbeiten?« Die Frau stand auf und winkte Bel, sie solle ihr folgen. Sie gingen in einen kleinen Raum am Ende der Galerie. An der Wand hing eine Serie von Triptychen, abstrakte Landschafts- und Meeresdarstellungen. »Er malte auch Aquarelle«, erzählte die Frau. »Die Aquarelle waren gegenständlicher. Er konnte sie besser verkaufen. Aber die hier, daran hing sein Herz.«
»Sie sind großartig«, staunte Bel, und das war ihre ehrliche Meinung.
Sie wünschte wirklich, sie hätte den Mann kennenlernen können, der die Welt so gesehen hatte.
»Ja. Das stimmt. Ich finde es so schade, dass es keine weiteren geben wird.« Die Galeristin streckte die Hand aus und strich mit den Fingerspitzen leicht über die strukturierte Acrylfarbe. »Er fehlt mir. Er war ein Freund, nicht nur ein Künstler, den wir vertraten.«
»Ob Sie mich wohl mit seinem Sohn in Kontakt bringen könnten?«, bat Bel, die den Grund ihres Hierseins nicht aus den Augen verloren hatte. »Vielleicht könnte ich das Feature doch noch schreiben. Als eine Art Würdigung.«
Die Frau verzog kurz die Lippen zu einem traurigen Lächeln. »Solange Daniel lebte, hat er öffentliche Aufmerksamkeit immer gemieden. Er hatte kein Interesse an Persönlichkeitskult und wollte seine Bilder für sich sprechen lassen. Aber jetzt … es wäre gut, zu sehen, dass sein Werk geschätzt wird. Gabe würde das vielleicht gefallen.« Sie nickte langsam.
»Können Sie mir seine Telefonnummer geben? Oder die Adresse?«, fragte Bel.
Die Frau sah leicht schockiert aus. »O nein, das kann ich nicht tun. Daniel hat immer auf Diskretion bestanden. Bitte, geben Sie mir Ihre Karte, dann werde ich Kontakt mit Gabe aufnehmen und ihn fragen, ob er mit Ihnen über seinen Vater reden möchte.«
»Er ist also noch in der Gegend?«
»Wo sonst sollte er sein? Die Toskana ist die einzige Heimat, die er je hatte. All seine Freunde sind hier. Wir wechseln uns ab, damit er jede Woche zumindest ein gutes Essen bekommt.«
Als sie zum Schreibtisch zurückgingen, fiel Bel ein, dass sie Daniels Familiennamen noch nicht kannte. »Haben Sie eine Broschüre oder einen Katalog mit seinen Arbeiten?«, fragte sie.
Die Frau nickte. »Ich drucke ihn aus.«
Zehn Minuten später war Bel wieder auf der Straße draußen. Endlich hatte sie etwas Konkretes, an das sie sich halten konnte. Die Jagd hatte begonnen.
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Coaltown of Wemyss
D ie weißgetünchten Häuschen an der Hauptstraße waren in tadellosem Zustand, die Veranden mit rustikalen Baumstämmen abgestützt. Man hatte sie schon immer sorgfältig in Ordnung gehalten, denn diese Straße war das, was die Leute wahrnahmen, wenn sie durchs Dorf fuhren. Heutzutage sahen die kleinen Nebenstraßen genauso schmuck aus. Karen wusste allerdings, dass dies nicht immer so gewesen war. Die armseligen Hütten in der Plantation Row waren ein bekanntes Elendsviertel gewesen, von ihrem Grundbesitzer vernachlässigt, weil es sich
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