Nacht unter Tag
schwer, angesichts eines solchen Lächelns am Ärger festzuhalten.
»Überhaupt nicht«, versicherte er sofort ruhiger. »Es ist immer gut, ein Gesicht mit dem Namen verbinden zu können.«
»Selbst wenn es so ein dummer Name ist«, sagte River kläglich. »Geht auf meine Hippie-Eltern zurück, bevor Sie fragen. Also, Sie werden wissen wollen, was ich bislang herausgefunden habe.« Sie holte ihren Organizer hervor und drückte zwei Tasten. »Wir haben bis spät in die Nacht gearbeitet, um das Skelett freizulegen und es aus dem flachen Grab zu heben.« Sie wandte sich an Karen. »Ich habe Phil eine Kopie der Videoaufzeichnung gegeben.« Jetzt kehrte sie zu ihrem Organizer zurück.»Heute früh habe ich eine vorläufige Untersuchung durchgeführt und kann Ihnen einige Informationen geben. Unser Skelett ist von einem Mann. Er ist älter als zwanzig und jünger als vierzig Jahre. Einiges Haar ist erhalten, aber es ist schwer zu sagen, welche Farbe es ursprünglich hatte, weil es Farbkörper aus der Erde aufgenommen hat. Er hatte einige Zahnbehandlungen, und sobald Sie die Möglichkeiten eingrenzen, können wir das weiterverfolgen. Und wir werden eine DNA -Probe nehmen können.«
»Wann wurde er vergraben?«, fragte Lees.
River zuckte mit den Achseln. »Es gibt umfassendere, teure und zeitaufwendige Tests, die wir durchführen können. Aber im Moment ist es schwer, Genaueres darüber zu sagen, wie lange er in der Erde gelegen hat. Mit hoher Wahrscheinlichkeit kann ich jedoch sagen, dass er 1984 zumindest eine Zeitlang noch lebte.«
»Das ist ja bemerkenswert«, rief Lees aus. »Ihr Forensiker bringt mich zum Staunen.«
Karen warf ihm einen kühlen Blick zu. »Münzen in seinen Taschen, oder?«, wandte sie sich an River.
»Also, eigentlich waren keine richtigen Taschen mehr da«, antwortete River. »Er trug Baumwolle und Wolle, die zum größten Teil verrottet sind. Die Münzen lagen im Beckengürtel.« Sie lächelte Lees wieder zu. »Sorry, keine Wissenschaft diesmal. Nur Beobachtung.«
Lees räusperte sich und kam sich dämlich vor. »Können Sie uns zu diesem Zeitpunkt noch irgendetwas sagen?«
»O ja«, sagte River. »Er ist auf jeden Fall keines natürlichen Todes gestorben.«
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San Gimignano
W ährend sie zum dritten Mal den Parkplatz abfuhr, um eine schwer zu ergatternde Lücke zu finden, kehrte Bel in Gedanken zu dem San Gimignano ihrer Erinnerung zurück, bevor es den Titel UNESCO -Welterbe bekam. Keine Frage, dass es die Einstufung verdient hatte. Im Mittelalter hatten die Bewohner aus dem weichen grauen Kalkstein ein verschachteltes Straßenlabyrinth um eine Piazza gebaut, in deren Mitte der alte Brunnen stand. Als die Stadt drohte, sich über die dicken Stadtmauern hinaus auszudehnen, hatten sie einfach beschlossen, in die Höhe zu bauen statt in die Breite. Dutzende von Türmen überragten die Silhouette der Stadt und gaben ihr von der Ebene darunter gesehen ein gezacktes Aussehen, als fehle hier und da ein Zahn. Auf jeden Fall einzigartig. Auf jeden Fall Welterbe. Und auf jeden Fall durch diesen Status ruiniert.
Bel hatte die eindrucksvolle toskanische Hügelstadt zum ersten Mal in den frühen achtziger Jahren besucht, als man auf den Straßen noch fast keine Touristen sah. Es gab damals noch richtige Läden, Bäcker, Gemüsehändler, Metzger, Flickschuster. Läden, in denen man Waschpulver oder Unterhosen oder einen Kamm kaufen konnte. Die Einheimischen tranken ihren Kaffee tatsächlich in den Bars und Cafés. Jetzt war die Stadt verändert. Die einzige Möglichkeit, normale Lebensmittel und Kleider zu kaufen, war der Markt am Donnerstag. Davon abgesehen war alles auf die Touristen ausgerichtet. Weinhandlungen boten überteuerten Vernaccia und Chianti an, den die Einheimischen nicht trinken würden, wenn man sie dafür bezahlte. Geschäfte mit Lederwaren verkauften alle dieselben industriell gefertigten Handtaschen und Geldbeutel. Souvenirläden und Eisdielen. Und natürlich Kunstgalerien für die, die mehr Geld als Verstand hatten. Bel hoffte, dass es die Einheimischen waren, die daran verdienten, weil sie auch diejenigen waren, die den höchsten Preis dafür zahlten.
Wenigstens würden so früh am Tag die Straßen nicht allzu voll sein, da sie einen Vorsprung vor den Touristenbussen hatte.
Bel zwängte sich schließlich in eine Parklücke und ging auf das große Steintor zu, das den höheren Eingang zur Stadt bewachte. Nach kaum dreißig Metern stieß sie schon auf die erste Galerie. Der
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