Nacht unter Tag
Sie kehrt heute Abend nach England zurück. Die Nachbarn sagten, sie hätte alles über die BurEst-Leute wissen wollen. Ein Junge erzählte einem meiner Männer, dass sie auch an zwei von Matthias’ Freunden interessiert gewesen sei. Einem englischen Maler und seinem Sohn. Aber ich habe keine Namen, keine Fotos, nichts. Vielleicht könnten Sie mit ihr sprechen? Vielleicht denken die Nachbarn in Boscolata, es ist besser, mit einer Journalistin zu sprechen als mit einem Polizisten, was meinen Sie?«
»Es ist tragisch, aber ich fürchte, Sie haben recht«, konstatierte Karen bitter. Sie tauschten noch ein Paar Höflichkeiten aus, leere Versprechungen, einen Besuch abzustatten, dann war der Anruf beendet. Karen zerknüllte ein Stück Papier und bewarf Phil damit. »Kannst du das glauben?«
»Was?« Er sah auf und stutzte. »Was glauben?«
»Die verflixte Bel Richmond«, murrte sie. »Für wen hält sie sich eigentlich? Brodie Grants private Polizeitruppe?«
»Was hat sie getan?« Er reckte die Arme hoch über den Kopf, stöhnte und dehnte das Rückgrat.
»Sie ist mal schnell in Italien gewesen.« Karen gab dem Papierkorb einen Tritt. »Verdammtes freches Miststück. Geht da runter und quatscht mit den Nachbarn. Diese Nachbarn, die der Polizei kaum etwas sagen, weil sie ein Haufen unverbesserlicher Linker sind. Herrgott noch mal.«
»Warte mal«, beschwichtigte Phil. »Sollten wir uns nicht darüber freuen? Ich meine, wir haben jemanden, der die Hintergrundinformationen sammelt, selbst wenn es nicht unsere italienischen Kollegen sind.«
»Kannst du hier rüberkommen und mir in meinem E-Mail-Ordner die Nachricht von Bel Richmond zeigen, die uns mitteilt, was sie in der Scheiß-Toskana aufgespürt hat? Kannst du kurz meinen Eingangskorb durchgehen und mir das Fax zeigen, das sie geschickt hat mit all den Informationen von da unten? Oder vielleicht klappt der Zugriff auf meine Voicemail nicht mehr? Phil, sie könnte alles Mögliche herausgefunden haben. Aber uns wird sie es nicht sagen.«
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Vom Flughafen Edinburgh
nach Rotheswell Castle
B el sah das leere Gepäckkarussell durchlaufen, aber die Erschöpfung machte sie unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Eine Fahrt zum Flughafen von Florenz, der unbegreiflicherweise irgendwo in einem Vorort versteckt lag, ein trister Flug via Charles de Gaulle, einem Flughafen, der bestimmt von einem neuzeitlichen Marquis de Sade entworfen worden war, und immer noch viele Meilen, bevor sie schlafen konnte. Und dann nicht einmal in ihrem eigenen Bett. Endlich erschienen Koffer und Taschen. Es war wohl von schlimmer Vorbedeutung, dass ihrer nicht bei der ersten Runde dabei war. Sie setzte schon zu einem Wutanfall am Schalter des Bodenpersonals an, als ihr Koffer endlich durchrutschte, einer der Verschlüsse hing lose herunter. Sie wusste im Grunde, dass Susan Charleson nichts mit ihrem Verdruss zu tun hatte, aber es war schön, jemanden zu haben, dem man auf irrationale Weise die Schuld aufhalsen konnte. Hoffentlich hatte sie wenigstens jemanden geschickt, um sie abzuholen.
Ihr Gemüt hätte sich eigentlich aufheitern müssen, als sie in die Ankunftshalle hinauskam und sah, dass wirklich ein Chauffeur auf sie wartete. Aber die Tatsache, dass es Brodie Grant persönlich war, verstärkte nur noch ihre Mattigkeit. Sie sehnte sich danach, sich zusammenzukauern und zu schlafen oder es sich gemütlich zu machen und etwas zu trinken. Sie wollte nicht während der nächsten vierzig Minuten vernommen werden. Er bezahlte sie ja nicht einmal, wenn sie es genau bedachte. Er kam nur für ihre Spesen auf und öffnete ihr Türen. Was eigentlich kein schlechter Deal war. Aber ihrer Meinung nach berechtigte ihn das nicht, rund um die Uhr ihre Dienste in Anspruch zu nehmen.
Als würdest du dich trauen, ihm das zu sagen
.
Grant begrüßte sie mit einem Nicken, und sie stritten sich kurz, wer den Koffer tragen sollte, dann gab Bel einfach klein bei. Als sie durch das Terminal eilten, wurde sich Bel der Blicke bewusst, die ihnen folgten. Brodie Grant wurde offenkundig in der Öffentlichkeit erkannt. Nicht viele Geschäftsleute hatten das erreicht. Richard Branson, Alan Sugar. Aber sie waren bekannte Gesichter aus dem Fernsehen, wo sie aus Gründen zu sehen waren, die nichts mit Geschäften zu tun hatten. Sie glaubte nicht, dass man Grant in London bemerken würde, aber hier in Schottland kannten die Leute sein Gesicht trotz seiner Medienscheu. Charisma oder nur ein großer Fisch in einem
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