Nacht unter Tag
Befragung vereinbaren konnte. Zu ihrer Überraschung hatte Willie Sinclair ihr gesagt, sein Sohn werde mit Frau und Kindern am gleichen Abend noch zu ihrem jährlichen Urlaub in Schottland eintreffen. Morgen früh würde sie Gelegenheit haben, mit Fergus Sinclair zu sprechen. Es klang, als sei er als einziger Mensch noch übrig, der vielleicht bereit wäre, Cat Grants Persönlichkeit zu entschlüsseln. Ihre Mutter war tot, ihr Vater lehnte es ab, und die Akten enthielten keine Hinweise auf enge Freundschaften.
Karen fragte sich, ob der Mangel an Freundschaften von Cat so gewollt war oder ob er mit ihrer Persönlichkeit zusammenhing. Sie kannte Menschen, die sich so für ihre Arbeit engagierten, dass sie einen Mangel an engen Beziehungen kaum wahrnahmen. Sie kannte auch andere, die es verzweifelt nach Nähe verlangte, deren einziges Talent aber darin bestand, Menschen zu vergraulen. Sie selbst war dankbar für das, was sie hatte: Freunde, deren Unterstützung und Humor einen wichtigen Platz in ihrer Tagesplanung einnahmen. Wenn ihrem Leben auch eine dominierende Beziehung im Mittelpunkt fehlte, so fühlte es sich doch verlässlich und angenehm an.
Wie hatte sich Cat Grants Leben angefühlt? Karen hatte Frauen gesehen, die sich für ihre Kinder verzehrten. Wenn sie ihre Blicke abgöttischer Liebe sah, war ihr nicht recht wohl dabei. Kinder waren menschlich, keine Götter, die man anbeten sollte. War Cats Kind der Mittelpunkt ihrer Welt gewesen? Hatte Adam ihr ganzes Herz besessen? Es sah von außen so aus. Alle nahmen an, dass Fergus der Vater des Kindes war, aber selbst wenn er das nicht war, schien eins klar: Adams Vater war aus dessen Leben verbannt worden. Es hatte den Anschein, dass seine Mutter ihn ganz für sich allein haben wollte.
Oder vielleicht doch nicht. Karen überlegte, ob sie durch das falsche Ende des Fernrohrs blickte. Was, wenn es nicht Cat gewesen wäre, die Adams Vater verstoßen hatte? Was, wenn er seine eigenen Gründe gehabt hätte, eine Rolle im Leben seines Sohnes abzulehnen? Vielleicht hatte er nicht die Verantwortung übernehmen wollen. Vielleicht hatte er andere Verpflichtungen, eine andere Familie, deren Ansprüche ihm durch die Aussicht auf ein weiteres Kind klar wurden. Vielleicht war er nur kurz hier gewesen und schon weg, bevor sie wusste, dass sie schwanger war. Es ließ sich nicht leugnen, dass es andere Möglichkeiten gab, die man bedenken sollte.
Karen seufzte. Sie würde mehr wissen, nachdem sie mit Fergus gesprochen hatte. Wenn sie Glück hatte, würde er ihr helfen, einige ihrer eher unwahrscheinlichen Ideen auszuschließen. »Ungelöste Fälle«, seufzte sie laut. Sie brachen einem das Herz. Wie Liebhaber lockten sie einen mit Versprechungen, diesmal würde es anders sein. Es fing immer neu und aufregend an, man versuchte, die kleinen Unstimmigkeiten zu ignorieren, denn man war sicher, sie würden verschwinden, wenn man erst einen besseren Durchblick hatte. Dann ging es plötzlich nicht mehr weiter. Wie Räder, die auf einem Kiesweg durchdrehten. Und bevor man sich’s versah, war es vorbei. Zurück zum Nullpunkt.
Sie sah zu Phil hinüber, der mit Hilfe von Datenbanken versuchte, einen Zeugen in einem anderen Fall aufzuspüren. Wahrscheinlich war es ganz gut, dass sich zwischen ihnen nie etwas entwickelt hatte. Es war besser, ihn als Freund zu haben, als sich schließlich mit Bitterkeit und Frustration des Abstands zwischen ihnen bewusst zu werden.
Und dann klingelte das Telefon. » CCRT , DI Pirie am Apparat«, meldete sie sich und strengte sich an, nicht so angeödet zu klingen, wie sie tatsächlich war.
»Hier ist Capitano di Stefano von den Carabinieri in Siena«, sagte eine Stimme mit ausgeprägtem Akzent. »Sind Sie die Beamtin, mit der ich über die Villa Totti bei Boscolata gesprochen habe?«
»Richtig.« Karen saß jetzt kerzengerade und nahm Stift und Papier zur Hand. Sie erinnerte sich vom letzten Gespräch her an di Stefanos Stil. Was Wortschatz und Grammatik anging, war sein Englisch überraschend gut, aber sein Akzent war grässlich. Sein Englisch klang wie ein Opernlibretto, merkwürdige Stellen waren betont, und die Aussprache grenzte ans Groteske. Aber all das spielte keine Rolle. Nur der Inhalt war wichtig, und Karen war bereit, sich wirklich anzustrengen, um genau herauszubekommen, was nun Sache war. »Danke für den Anruf.«
»Es ist mir ein Vergnügen«, versicherte er, und jeder Vokal war deutlich ausgeprägt. »Also. Wir haben die Villa besucht
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