Nacht unter Tag
Im liebenswürdigsten Tonfall hatte sie Bel erklärt, sie solle sich um zwei Uhr im Präsidium einfinden. »Wenn Sie nicht hier sind«, flötete sie, »wird zehn Minuten später ein Streifenwagen in Rotheswell halten und Sie wegen Behinderung der Polizeiarbeit verhaften.« Dann hatte sie aufgelegt.
Jetzt war es eine Minute vor zwei, und Dave Cruickshank hatte gerade angerufen, um ihr mitzuteilen, dass Bel Richmond im Gebäude sei. »Schicken Sie sie mit einem uniformierten Kollegen in den Verhörraum eins. Er soll dort mit ihr warten, bis ich komme.« Karen holte sich eine Cola light aus dem Kühlschrank und setzte sich für fünf Minuten an ihren Schreibtisch, nahm noch einen letzten Schluck aus der Dose und machte sich dann auf den Weg.
Bel saß in dem grauen fensterlosen Raum am Tisch und sah wütend aus. Eine Schachtel rote Marlboros lag vor ihr, eine einzelne Zigarette daneben. Offenbar war ihr entfallen, dass die Schotten das Rauchen früher als die Engländer verboten hatten, und der Beamte hatte sie daran erinnert.
Karen zog einen Stuhl hervor und ließ sich darauf fallen. Das Schaumgummipolster war von anderen Hintern in Form gebracht worden, und sie rutschte ein wenig hin und her, bis sie bequem saß. Die Ellbogen auf dem Tisch, beugte sie sich vor. »Versuchen Sie nicht noch einmal, mir blöd zu kommen«, sagte sie im Plauderton, aber ihre Augen glitzerten wie Granit.
»Ach bitte«, entgegnete Bel. »Veranstalten wir doch jetzt keinen Wettbewerb, wer sich mehr geärgert hat. Ich bin ja hier, lassen Sie uns also anfangen.«
Karen sah Bel unbeirrt an. »Wir müssen über Italien reden.«
»Warum nicht? Schönes Land. Fabelhaftes Essen, der Wein wird immer besser. Und dann die Kunst …«
»Hören Sie auf. Mir ist es ernst. Sonst werde ich Sie wegen Behinderung der Polizei festnehmen und in eine Zelle sperren lassen, bis ich Sie vor einen Amtsrichter bringen kann. Ich werde mich nicht von Sir Broderick Maclennan Grant oder seinen Lakaien verarschen lassen.«
»Ich bin kein Lakai von Brodie Grant«, versetzte Bel. »Ich bin eine unabhängige Enthüllungsjournalistin.«
»Unabhängig? Sie leben unter seinem Dach. Sie essen dort, trinken seinen Wein. Der übrigens kein italienischer Wein ist, könnte ich wetten. Und wer hat Ihre kleine Spritztour nach Italien bezahlt? Sie sind nicht unabhängig, Sie sind gekauft und werden dafür bezahlt.«
»Sie irren sich.«
»Nein, das tu ich nicht. Ich habe im Moment mehr Handlungsfreiheit als Sie, Bel. Ich kann meinem Chef sagen, er soll mir den Buckel runterrutschen. Wenn ich mir’s recht überlege, hab ich das gerade getan. Können Sie das auch von sich behaupten? Wäre die italienische Polizei nicht, wüsste ich nicht einmal, dass Sie mit den Leuten in der Toskana über die Villa Totti gesprochen haben. Schon allein die Tatsache, dass Sie Grant davon berichtet haben, uns aber nicht, beweist mir, dass er über Sie bestimmt.«
»Das ist Quatsch. Reporter reden erst über ihre Nachforschungen mit der Polizei, wenn sie mit der Arbeit fertig sind. Darum geht es hier.«
Karen schüttelte langsam den Kopf. »Das glaube ich nicht. Und ehrlich gesagt, bin ich überrascht; ich hätte Sie anders eingeschätzt.«
»Sie wissen nichts über mich, Inspector.« Bel setzte sich behaglich auf dem Stuhl zurecht, als bereite sie sich auf etwas Vergnügliches vor.
»Ich weiß, Sie haben sich Ihren Ruf nicht mit dem Breittreten von solchen Klischees erworben.« Karen zog ihren Stuhl näher an den Tisch heran und verringerte die Entfernung zwischen ihnen auf weniger als sechzig Zentimeter. »Und ich weiß, dass Sie während Ihrer ganzen Karriere eine Journalistin waren, die sich für bestimmte Dinge einsetzte. Wissen Sie, was die Leute über Sie sagen, Bel? Sie sagen, dass Sie eine Kämpferin sind. Sie sagen, dass Sie jemand sind, der das Richtige tut, selbst wenn es nicht gerade leicht ist. So wie Sie Ihre Schwester und ihren Jungen in Ihrem Haus aufgenommen haben, als sich jemand um sie kümmern musste. Sie sagen, dass Ihnen nichts daran liegt, wie bekannt Sie sind, und dass Sie die Wahrheit mit allen Mitteln herauskitzeln und die Leute zwingen, sich ihr zu stellen. Sie sagen, Sie seien eine Querdenkerin. Jemand, der sich an seinen eigenen Regeln orientiert. Jemand, der sich keine Befehle von den Autoritäten geben lässt.« Sie wartete und sah Bel fest in die Augen. Die Journalistin blinzelte zum ersten Mal, sah aber nicht weg. »Meinen Sie, die würden Sie jetzt
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