Nacht unter Tag
Bel war ihm bewusst gewesen, was er tat. Aber er hatte aus Selbstschutz gehandelt. Er war kurz davor gewesen, mit seinem Großvater Kontakt aufzunehmen, als Bel in sein Leben einbrach und alles zu zerstören drohte. Das Letzte, was er brauchen konnte, war, dass sie alles verriet und ihn mit Matthias’ Ermordung in Verbindung brachte. Er wollte im Haus seines Großvaters als unbeschriebenes Blatt ankommen und weigerte sich, sein Leben, das ihm vorenthalten worden war, jetzt von einer Sensationsjournalistin zerstören zu lassen.
Er sagte sich immer wieder, dass er getan hatte, was er tun musste. Und dass es gut war, dass er deswegen ein schlechtes Gewissen hatte. Das bewies, dass er im Grunde ein anständiger Mensch war. Er war von den Ereignissen überwältigt worden. Er war kein schlechter Mensch. An dieser Überzeugung musste er verzweifelt festhalten. Er war dabei, ein neues Leben zu beginnen. Innerhalb von Tagen würde Gabriel Porteous tot und Adam Maclennan Grant unter den Fittichen seines reichen und mächtigen Großvaters in Sicherheit sein.
Für Reue wäre später noch Zeit.
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Rotheswell Castle
S usan Charleson mochte es offensichtlich nicht, wenn die Polizei ohne vorherige Aufforderung auftauchte. Die wenigen Minuten Vorwarnung zwischen Karens Ankunft am Tor und ihrem Erscheinen an der Eingangstür waren für Grants rechte Hand nicht lang genug, um ihre Brüskierung zu verbergen. »Wir haben Sie nicht erwartet«, sagte sie statt eines höflichen Willkommensgrußes.
»Wo ist er?« Karen fegte herein und zwang Susan, schnell zwei Schritte zur Seite zu treten.
»Wenn Sie Sir Broderick meinen, er ist noch nicht zu sprechen.«
Karen sah demonstrativ auf ihre Uhr. »Siebenundzwanzig Minuten nach sieben. Ich wette, er sitzt noch beim Frühstück. Werden Sie mich zu ihm führen, oder muss ich ihn selbst aufspüren?«
»Das ist ja unerhört«, beschwerte sich Susan. »Weiß Assistant Chief Constable Lees, dass Sie hier sind und sich so selbstherrlich aufführen?«
»Ich bin sicher, dass er es bald wissen wird«, entgegnete Karen über die Schulter, als sie durch den Flur losmarschierte. Sie riss die erste Tür auf, an der sie vorbeikam. Eine Garderobe. Die nächste Tür war ein Büro.
»Lassen Sie das«, sagte Susan scharf. »Sie überschreiten Ihre Kompetenzen, Inspector.« Die nächste Tür war ein kleiner Empfangsraum. Karen hörte Susan hinter sich herlaufen. »Na gut«, meinte sie schnippisch, während sie Karen überholte. Sie blieb vor Karen stehen und streckte ihr abwehrend die Arme entgegen, offenbar glaubte sie, das würde Karen aufhalten. »Ich werde Sie zu ihm führen.«
Karen folgte ihr in den hinteren Teil des Gebäudes. Susan öffnete die Tür zu einem hellen Frühstücksraum, der auf den See und den Wald am anderen Ufer hinausging. Aber Karen hatte keine Augen für die Aussicht oder das Buffet, das auf der langen Anrichte aufgebaut war. Sie hatte nur Interesse an dem Paar, das am Tisch saß, zwischen ihnen ihr Sohn. Grant stand sofort auf und blickte sie finster an. »Was ist los?«, fragte er.
»Es ist Zeit für Lady Grant, Alec für die Schule fertigzumachen«, erklärte Karen, wobei sie selbst bemerkte, dass das wie aus einem schlechten Theaterstück klang; aber es war ihr egal, für die Umgehung von Peinlichkeiten blieb keine Zeit.
»Wie können Sie es wagen, in mein Haus einzudringen und hier herumzuschreien.« Er hatte als Erster die Stimme erhoben, aber das schien er nicht zu bemerken.
»Ich schreie nicht, Sir. Was ich Ihnen mitzuteilen habe, ist nicht dazu geeignet, es vor einem Kind auszusprechen.« Karen heftete den Blick auf seine Augen und ließ sich nicht einschüchtern. Aus irgendeinem Grund konnte sie an diesem Morgen die geringe Angst vor den Folgen vollständig ablegen.
Grant warf einen schnellen, verlegenen Blick auf seinen Sohn und seine Frau. »Dann gehen wir woandershin, Inspector.« Er ging zur Tür voraus. »Susan, Kaffee. In mein Büro.«
Karen musste sich anstrengen, mit seinen langen Schritten mitzuhalten, und hatte kaum zu ihm aufgeschlossen, als er in einen spartanisch eingerichteten Raum stürmte, wo auf einem Glasschreibtisch ein großes Notizbuch mit Spiralbindung lag und ein ultraflacher Laptop stand. Hinter dem Schreibtisch befand sich ein funktionaler, ergonomisch geformter Bürostuhl. An einer Wand stand ein Schubladenschrank, an der anderen zwei Stühle, die Karen von einer Reise nach Barcelona kannte, als sie bei der Stadtrundfahrt aus Versehen
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