Nacht unter Tag
ihnen jede Menge Zeit gab, die rissigen Betonplatten und die deprimierende unkrautbewachsene Fläche vor dem Haus zu betrachten. »Wenn das mir gehörte«, fing der Minzdrops an, verstummte dann aber, als sei es zu schwierig, sich das vorzustellen.
Die Frau, die die Tür öffnete, sah aus, als habe sie sich ihr Leben lang geduckt, damit das Schicksal sie leichter niederdrücken konnte. Ihr dünnes, ergrauendes Haar war nachlässig nach hinten frisiert, und an beiden Seiten hingen lose Strähnen herunter. Ihre Haut war faltig, und die Wangen zierten geplatzte Äderchen. Sie trug eine Kittelschürze aus Nylon, die fast bis zum Knie reichte, über einer billigen schwarzen, mit Knötchen übersäten Hose. Die Kittelschürze hatte einen lavendelähnlichen Farbton, der aber nirgends in der Natur vorkam. Karens Eltern wohnten noch in einer Straße mit ehemaligen Bergleuten und deren Familien im rückständigen Methil, aber selbst die am wenigsten angepassten Nachbarn hätten sich mit ihrem Aussehen mehr Mühe gegeben, wenn sie einen offiziellen Besuch erwartet hätten. Karen machte sich keine Mühe, Jenny Prentice nicht nach ihrem Äußeren zu beurteilen. »Guten Morgen, MrsPrentice«, begrüßte sie sie munter. »Ich bin Detective Inspector Pirie. Wir haben telefoniert. Das ist Detective Constable Murray.«
Jenny nickte und schniefte. »Kommen Sie rein.«
Das Wohnzimmer war eng, aber sauber. Die Möbel waren genau wie der Teppich altmodisch, aber keineswegs schäbig. Ein Zimmer für besondere Gelegenheiten, dachte Karen, und für ein Leben, in dem solche nicht oft vorkamen.
Jenny lud sie ein, auf dem Sofa Platz zu nehmen, und setzte sich auf einen Sessel gegenüber. Offensichtlich hatte sie nicht vor, ihnen etwas anzubieten. »Also, Sie sind hier wegen meiner Misha. Ich dachte, Sie hätten Besseres zu tun bei all den furchtbaren Sachen, über die ich immer in den Zeitungen lese.«
»Ein vermisster Ehemann und Vater ist doch etwas Furchtbares, meinen Sie nicht?«, erwiderte Karen.
Jenny presste die Lippen aufeinander, als hätte sie Sodbrennen. »Das kommt auf den Mann an, Inspector. Bei den Kerlen, die Sie in Ihrem Beruf treffen, stell ich mir vor, dass deren Frauen und Kinder nicht besonders beunruhigt sind, wenn sie mitgenommen werden.«
»Sie würden sich wundern. Viele der Familien sind am Boden zerstört. Aber sie wissen zumindest, wo ihr Mann ist. Sie müssen nicht mit der Unsicherheit leben.«
»Ich fand nicht, dass ich mit der Unsicherheit lebte. Ich dachte, dass ich ganz genau wusste, wo Mick war, bis meine Misha anfing, alles wieder aufzurühren und ihn zu suchen.«
Karen nickte. »Sie nahmen an, er sei in Nottingham.«
»Ja. Ich dachte, dass er als Streikbrecher zur Arbeit ging. Ehrlich gesagt, es tat mir nicht leid, ihn von hinten zu sehen. Aber ich war verdammt wütend, dass er uns dieses Etikett aufgedrückt hat. Mir wäre es lieber gewesen, er wäre tot als ein Streikbrecher, wenn Sie es unbedingt wissen wollen.« Sie zeigte auf Karen. »Sie klingen so, als wären Sie hier aus der Gegend. Sie müssen doch wissen, wie es ist, wenn einem so was angehängt wird.«
Karen nickte verständnisvoll. »Da ist es umso ärgerlicher, dass es jetzt so aussieht, als wäre er überhaupt nicht weggegangen, um den Streik zu brechen.«
Jenny wandte den Blick ab. »Das weiß ich nicht. Alles, was ich weiß, ist, dass er damals an dem Abend nicht mit der einen Gruppe von Streikbrechern nach Nottingham gegangen ist.«
»Also gut, wir sind hier, um festzustellen, was wirklich passiert ist. Mein Kollege wird sich Notizen machen, nur um sicherzugehen, dass ich alles, was Sie mir sagen, richtig im Gedächtnis behalte.« Der Minzdrops holte hastig sein Notizbuch heraus und schlug es – nervös durch die Seiten blätternd – auf. Vielleicht hatte Phil recht gehabt, als er von seinen Schwächen sprach, überlegte Karen. »Jetzt brauche ich erst mal seinen vollständigen Namen und das Geburtsdatum.«
»Michael James Prentice. Geboren am 20. Januar 1955.«
»Und Sie wohnten damals alle hier? Sie, Mick und Misha?«
»Ja. Ich habe immer hier gewohnt, seit ich verheiratet bin. Hatte eigentlich nie eine andere Wahl.«
»Haben Sie ein Foto von Mick, das Sie uns geben könnten? Ich weiß, es ist lange her, aber es könnte uns helfen.«
»Sie können es in den Computer eingeben und älter machen, oder?« Jenny ging zur Anrichte und öffnete eine Schublade.
»Manchmal lässt sich das machen.« Aber zu teuer, es sei denn,
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