Nacht unter Tag
es gibt einen dringenderen Grund als die Krankheit Ihres Enkels.
Jenny nahm ein tadelloses schwarzes Lederalbum heraus und brachte es zum Sessel. Beim Aufschlagen knarrte der Deckel. Selbst verkehrt herum und von der anderen Seite des Raums aus konnte Karen erkennen, dass es ein Hochzeitsalbum war. Jenny blätterte schnell die Seiten mit den offiziellen Hochzeitsfotos bis zu einer Tasche am Ende des Albums um, in der Schnappschüsse steckten. Sie zog einen Stoß heraus und sah sie durch, entschied sich endlich für eines und gab Karen ein rechteckiges Foto. Es war ein Brustbild von zwei jungen Männern, die in die Kamera grinsten. Sie tranken dem Fotografen zu, ihre Biergläser waren teilweise im Bild. »Das hier links ist Mick«, sagte Jenny. »Der Gutaussehende.«
Sie übertrieb nicht. Mick Prentice hatte zerzaustes dunkelblondes Haar, das so ähnlich wie George Michaels Fußballerfrisur in seiner Wham-Phase geschnitten war. Seine Augen waren blau mit auffällig langen Wimpern, dazu ein verführerisches Lächeln. Die sichelförmige Narbe von einer Verletzung unter Tage, die wie ein Schatten seine rechte Augenbraue durchschnitt, sorgte dafür, dass er nicht zu hübsch aussah. Karen konnte sehr gut verstehen, warum Jenny sich in ihren Mann verliebt hatte. »Danke«, meinte sie. »Wer ist der andere Typ?« Ein strubbeliger brauner Haarschopf, ein langes knochiges Gesicht, ein paar Aknenarben auf den eingesunkenen Wangen, lebhafte Augen und ein teuflisches Grinsen wie das des Jokers aus den Batman-Comics. Kein gutaussehender Typ wie sein Kamerad, wirkte er aber doch anziehend.
»Sein bester Kumpel, Andy Kerr.«
Der beste Freund, der sich, laut Misha, umgebracht hatte
. »Misha sagte mir, dass Ihr Mann am Freitag, den vierzehnten Dezember 1984, verschwand. Ist das Ihrer Erinnerung nach richtig?«
»Das stimmt. Er ging morgens mit seinen verflixten Farben raus und wollte zum Abendessen wieder zurück sein. Da hab ich ihn zum letzten Mal gesehen.«
»Farben? Hat er nebenbei ein bisschen gearbeitet?«
Jenny antwortete verächtlich: »Schön wär’s. Wir hätten ja das Geld ganz gut brauchen können. Nein, Mick hat mit Wasserfarben gemalt. Ist das zu glauben? Können Sie sich während des Streiks von 1984 etwas Sinnloseres vorstellen als einen Bergarbeiter, der Aquarelle malt?«
»Hätte er sie nicht verkaufen können?«, warf der Minzdrops ein und beugte sich eifrig vor.
»An wen denn? Alle hier in der Gegend waren pleite, und er hatte kein Geld, auf gut Glück irgendwo anders hinzugehen.« Jenny zeigte auf die Wand hinter ihnen. »Er hätte von Glück sagen können, wenn er zwei Pfund für eins bekommen hätte.«
Karen drehte sich um und betrachtete die drei billig gerahmten Bilder an der Wand. West Wemyss, Macduff Castle und der Lady’s Rock. Ihrem ungeübten Auge erschienen sie plastisch und lebendig. Sie hätte ihnen in ihrer Wohnung sehr gern einen Platz gegeben, allerdings wusste sie nicht, wie viel sie damals im Jahr 1984 für das Privileg zu zahlen bereit gewesen wäre. »Wie ist er denn darauf gekommen?«, fragte Karen und wandte sich wieder an Jenny.
»Er hat in dem Jahr, in dem Misha zur Welt kam, an einem Kurs für Bergleute bei der Wohlfahrt teilgenommen. Die Lehrerin meinte, er sei begabt.
Ich
glaube, sie hat jedem, der nur halbwegs gut aussah, dasselbe gesagt.«
»Aber er hat weitergemacht?«
»Er kam dadurch aus dem Haus. Weg von den schmutzigen Windeln und dem Geschrei.« Jenny Prentice begann jetzt, Bitterkeit auszustrahlen. Merkwürdig, aber ermutigend, dass sie offenbar ihre Tochter nicht damit angesteckt hatte. Vielleicht hatte das etwas mit dem Stiefvater zu tun, von dem sie gesprochen hatte. Karen nahm sich vor, Jenny nach dem anderen Mann in ihrem Leben zu fragen, noch einem, der durch seine Abwesenheit auffiel.
»Hat er während des Streiks viel gemalt?«
»Bei schönem Wetter war er jeden Tag mit seinem Seesack und der Staffelei draußen. Und wenn es regnete, war er unten in den Höhlen mit seinen Kumpels von der Gesellschaft zur Erhaltung der Höhlen.«
»Sie meinen die Höhlen von Wemyss?« Karen kannte die Höhlen, die sich von der Küste bis tief in die Sandsteinklippen zwischen East Wemyss und Buckhaven erstreckten. Sie hatte als Kind manchmal dort gespielt, ohne etwas über ihre historische Bedeutung als wichtiger Ort der Pikten zu wissen. Die Kinder aus der Umgebung hatten sie als Spielplätze benutzt, was einer der Gründe dafür war, dass die Gesellschaft zur Erhaltung
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