Nacht unter Tag
brachte sich zwei Jahre nach dem Tod ihrer Tochter um. Ihr ehemaliger Freund Fergus Sinclair lehnt Interviews ab. Und der Polizeibeamte, der die Ermittlungen leitete, ist auch unerreichbar; er sitzt selbst eine lebenslange Haftstrafe wegen Mordes ab.«
»O Gott«, seufzte sie. Sie hatte noch nicht einmal die Fallakte gesehen, und schon entpuppte sich die Sache als eine höllisch schwere Aufgabe.
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Kirkcaldy
E s war nach zehn, als Karen mit einem Aktenstoß und einer Tüte Fish and Chips durch ihre Haustür trat. Den Gedanken, dass sie nur so tat, als würde sie einen Haushalt führen, war sie nie losgeworden. Vielleicht hatte es etwas mit dem Haus selbst zu tun, einem unpersönlichen Kasten in einem aus den sechziger Jahren stammenden Wohngebiet nördlich von Kirkcaldy. Die Art von Immobilie, in die die Leute erst mal einziehen und sich dann an die Hoffnung klammern, dort nicht bleiben zu müssen. Ein Vorort mit niedriger Kriminalitätsrate, ein Ort, an dem man Kinder auf der Straße spielen lassen konnte, vorausgesetzt man wohnte nicht an einer Durchgangsstraße. Eltern mussten hier Verkehrsunfälle fürchten, keine Entführungen. Karen wusste gar nicht mehr genau, warum sie das Haus gekauft hatte, obwohl sie es damals für eine gute Idee gehalten hatte. Sie vermutete, der Reiz hatte für sie darin gelegen, dass es vollkommen renoviert und eingerichtet war, wahrscheinlich von jemandem, der dazu durch den Fernsehspot eines Bauträgers inspiriert worden war. Sie hatte zusammen mit dem Haus die Möbel bis hin zu den Bildern an den Wänden erstanden. Es war ihr egal, dass sie die Sachen, mit denen sie lebte, nicht selbst ausgewählt hatte. Sie hätte wahrscheinlich die gleichen Gegenstände ausgesucht und ersparte sich so einen Sonntag bei IKEA . Und niemand konnte abstreiten, dass sie tausendmal schöner waren als der fade Blümchenkitsch in der Wohnung ihrer Eltern. Ihre Mutter wartete immer noch auf ihre Rückkehr zum herkömmlichen Lebensstil, was aber nicht geschehen würde. Wenn sie am Wochenende freihatte, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als mit Freunden ein Currygericht zu genießen und lange auf der Couch zu liegen, während sie Fußball und alte Filme schaute. Und möglichst keine Hausarbeit.
Sie lud alles auf dem Esstisch ab und suchte sich einen Teller und Besteck. Immerhin hatte sie ja Gott sei Dank noch gewisse Standards. Sie warf ihren Mantel über eine Stuhllehne, setzte sich und schlug eine Akte auf, die sie beim Essen las. Vorher hatte sie sich schon durch die Unterlagen zum Fall Grant durchgearbeitet und die Fragen notiert, die sie beantwortet haben wollte. Jetzt hatte sie endlich Zeit, das Material zu Andy Kerr anzuschauen, das Phil für sie gesammelt hatte.
Wie erwartet war die ursprüngliche Vermisstenmeldung äußerst lückenhaft. Damals machte das Verschwinden eines unverheirateten, kinderlosen, erwachsenen Mannes, der in der Vergangenheit an klinischen Depressionen gelitten hatte, kaum einen Eindruck auf die Polizei. Es hatte nichts damit zu tun, dass durch den Bergarbeiterstreik die Personaldecke der Polizei fast bis zur Grenze der Belastbarkeit reduziert war, aber sehr viel damit, dass man Vermissten damals keine Priorität einräumte. Außer wenn es sich um kleine Kinder oder attraktive junge Frauen handelte. Selbst heutzutage hätten Andy Kerrs Gesundheitsprobleme ihm nur ein mäßiges Interesse garantiert.
Er war am Weihnachtsabend von seiner Schwester Angie als vermisst gemeldet worden, weil er nicht zur traditionellen Familienfeier bei den Eltern erschienen war. Angie, die für die Feiertage von der Pädagogischen Hochschule nach Haus gekommen war, hatte ihm in der vorhergehenden Woche zweimal eine Nachricht hinterlassen, um mit ihm einen Termin für einen gemeinsamen Drink zu vereinbaren. Andy hatte nicht zurückgerufen, aber das war nicht ungewöhnlich. Er hatte sich schon immer hingebungsvoll seiner Arbeit gewidmet; aber seit der Streik lief, war er zum Workaholic geworden.
Dann hatte Mrs.Kerr am Nachmittag des Heiligabends zugegeben, dass Andy wegen Depressionen krankgeschrieben sei. Angie hatte ihren Vater überredet, sie zu Andys Häuschen im Wald von Wemyss hinüberzufahren. Die Räume waren kalt und verlassen, und im Kühlschrank fanden sich keinerlei frische Lebensmittel. Eine Notiz war an die Zuckerdose auf dem Küchentisch gelehnt.
Wenn ihr dies lest, dann wahrscheinlich aus dem Grund, dass ihr euch Sorgen um mich macht. Das braucht ihr nicht. Ich habe genug.
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