Nacht unter Tag
weiß Ihre Flexibilität zu schätzen.« Sie ging zum Tisch hinüber, setzte sich, verschränkte die Finger ineinander und schien gelassen. »Ich hoffe, ich verursache Ihnen keine Überstunden.«
Karen fragte sich, wann sie an einem Freitag das letzte Mal um fünf zu Hause gewesen war, und fand darauf keine Antwort. »Schön wär’s«, entgegnete sie.
Bels warmherziges Lachen klang verschwörerisch. »Wem sagen Sie das! Ich vermute, Ihre Arbeitssituation ist meiner erschreckend ähnlich. Ich muss Ihnen übrigens gestehen, dass ich beeindruckt bin.«
Karen wusste, dass dies ein Trick war, ließ sich aber trotzdem ködern. »Wovon beeindruckt?«
»Von Brodie Grants Einfluss. Ich hatte mir nicht vorgestellt, dass ich es mit der Frau zu tun bekommen würde, die Jimmy Lawson hinter Gitter gebracht hat.«
Karen spürte vom Hals her Röte ins Gesicht aufsteigen, wusste, dass es fleckig und hässlich aussehen würde, und hätte am liebsten irgendeinem Möbelstück einen Tritt versetzt. »Darüber spreche ich nicht«, erklärte sie.
Wieder dieses sanfte, gefällige Lachen. »Ich kann mir vorstellen, dass es kein beliebtes Thema zwischen Ihnen und Ihren Kollegen ist. Da sie wissen, dass Sie in der Lage waren, Ihren Chef als dreifachen Mörder zu überführen, glauben sie bestimmt, sie müssten sich vorsehen.«
Sie stellte es fast so dar, als hätte Karen Lawson etwas angehängt. In Wirklichkeit aber waren – sobald sie sich getraut hatte, das Undenkbare zu denken – die Beweise da und mussten nur zusammengefügt werden. Vergewaltigung und Ermordung einer Fünfundzwanzigjährigen, zwei weitere Morde, um das frühere Fehlverhalten zu vertuschen. Lawson nicht zu überführen wäre Täuschung gewesen. Sie war versucht, Bel Richmond genau das zu sagen. Aber Karen wusste, dass diese Antwort ein Gespräch in Gang setzen und sie auf Wege führen würde, die sie nicht wieder betreten wollte. »Wie gesagt, ich spreche nicht darüber.« Bel neigte den Kopf zur Seite und setzte ein Lächeln auf, das Karen reumütig, aber doch selbstbewusst vorkam. Keine Niederlage, sondern ein Aufschub. Karen lächelte in sich hinein, denn sie wusste, dass die Journalistin sich in dieser Beziehung täuschte.
»Wie wollen Sie also vorgehen, Inspector Pirie?«, erkundigte sich Bel.
Karen weigerte sich stur, sich von Bels Charme verführen zu lassen, und behielt ihren offiziellen Tonfall bei. »Was ich von Ihnen benötige, ist Folgendes: Sie müssen mir als Augen und Ohren dienen und mir Schritt für Schritt schildern, was geschehen ist. Wie und wo Sie das Poster gefunden haben. Die ganze Geschichte. Alle Einzelheiten, an die Sie sich erinnern können.«
»Es fing mit meinem Morgenlauf an«, begann Bel. Karen hörte aufmerksam zu, als sie ihre Entdeckungsgeschichte noch einmal erzählte. Sie machte sich Notizen und schrieb sich Fragen auf, die sie danach stellen wollte. Bel schien bei ihrem Bericht freimütig und umfassend, und Karen hütete sich, den Redefluss einer hilfsbereiten Zeugin zu unterbrechen, die so richtig in Fahrt war. Das Einzige, was sie von sich gab, waren gemurmelte Ermutigungen.
Schließlich kam Bel ans Ende ihrer Geschichte. »Ehrlich gesagt, bin ich überrascht, dass Sie das Poster gleich erkannt haben«, sagte Karen. »Ich bin nicht sicher, ob ich es hätte einordnen können.«
Bel zuckte mit den Schultern. »Ich bin Journalistin, Inspector. Die Sache war damals eine Riesenstory. Ich hatte gerade das Alter erreicht, in dem ich dachte, ich würde gern Journalistin werden. Ich hatte angefangen, mich ernsthaft mit Zeitungen und Nachrichtenmeldungen zu beschäftigen. Intensiver als der Durchschnittsleser. Ich glaube, dieses Bild drang tief bis in die hintersten Winkel meines Gehirns vor.«
»Ich verstehe, wie das geschehen konnte. Aber da Sie die große Bedeutung des Posters verstanden, überrascht es mich, dass Sie uns nicht direkt informiert haben, statt zu Sir Broderick zu gehen.« Karen ließ diesen unterschwelligen Vorwurf zwischen ihnen stehen.
Bels Antwort erfolgte prompt. »Eigentlich aus zwei Gründen. Erstens hatte ich keine Ahnung, wen ich anrufen sollte. Ich dachte, wenn ich einfach auf die Polizeistation in meinem Viertel ginge, würde die Sache vielleicht nicht ernst genug genommen. Und zweitens wollte ich auf keinen Fall, dass die Polizei ihre Zeit damit verschwendete. Soweit ich es beurteilen konnte, hätte es sich ja auch um eine üble Kopie handeln können, schätzte aber, dass Sir Broderick und seine
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