Nacht unter Tag
Hinweistafeln für Touristen über die fünftausendjährige Geschichte der Höhlen und ihrer Nutzer. Die Pikten hatten in ihnen gelebt. Von den Schotten waren sie als Schmieden und Glashütten genutzt worden. An der hinteren Wand von Doo Cave gab es Dutzende von Taubenschlägen. Im Lauf der Zeit hatten die Höhlen den Anwohnern für so verschiedene Zwecke wie geheime politische Versammlungen, Familienfeste an regnerischen Tagen und romantische Rendezvous gedient. Karen hatte dort nicht ihre Unschuld verloren, kannte aber Mädchen, denen das dort widerfahren war, doch sie dachte deshalb nicht schlechter von ihnen.
Als sie zurückging, sah sie Phils Wagen an der Stelle stoppen, an der die Teerdecke in den Küstenpfad überging. Es war Zeit, eine andere Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu untersuchen. Als sie den Parkplatz erreicht hatte, war auch ein großer, leicht gebeugt gehender Mann mit einer glänzenden Glatze zu ihm gestoßen. Er trug die Art Jacke und Hose, die die Mittelklasse glaubt tragen zu müssen, wenn etwas Anstrengenderes als ein Besuch im Pub ansteht. Überall Reißverschlüsse, Taschen und Hightech-Materialien. Von den Leuten, mit denen Karen aufgewachsen war, hatte niemand besondere Kleidung oder Stiefel zum Wandern gehabt. Man ging einfach in seiner Straßenkleidung und zog im Winter vielleicht noch eine Extraschicht Pullover über. Damit schaffte man vor dem Essen trotzdem zwölf bis fünfzehn Kilometer.
Als sie auf die beiden Männer zuging, schüttelte Karen diese Gedanken ab. Manchmal verwirrte es sie, wenn sie sich dabei ertappte, dass sie genau wie ihre Granny dachte. Phil stellte sie dem anderen Mann, Arnold Haigh, vor. »Ich bin seit 1981 Schriftführer des Vereins zur Erhaltung der Höhlen von Wemyss«, erklärte er stolz mit einem Akzent, der irgendwo aus der Gegend ein paar hundert Kilometer südlich von Fife stammte. Er hatte ein langes schmales Gesicht mit einer nicht dazu passenden Stupsnase und im Kontrast zu seiner wettergegerbten Haut unnatürlich weiß leuchtende Zähne.
»Das ist wahre Hingabe«, bemerkte Karen.
»Eigentlich nicht«, lachte Haigh in sich hinein. »Niemand sonst hat den Job je machen wollen. Was genau wollten Sie mit mir besprechen? Ich weiß ja, es geht um Mick Prentice, aber ich habe seit Jahren nicht ein einziges Mal auch nur an ihn gedacht.«
»Können wir uns die Höhlen mal ansehen und beim Gehen weiter darüber sprechen?«, schlug Karen vor.
»Sicher«, meinte Haigh liebenswürdig. »Wir können durch Court Cave und Doo Cave gehen und dann eine Tasse Kaffee im Thane’s Cave trinken.«
»Eine Tasse Kaffee?« Phil klang verwirrt. »Es gibt da unten ein Café?«
Haigh lachte wieder leise. »Tut mir leid, Sergeant. So etwas Großartiges haben wir nicht. Thane’s Cave wurde nach dem Felssturz von 1985 geschlossen, aber die Gesellschaft hat Schlüssel zur Einzäunung. Wir fanden es richtig, die Tradition zu wahren, dass die Höhlen eine nützliche Funktion haben. Deshalb haben wir in einem sicheren Teil der Höhle einen kleinen Platz für ein Clubhaus eingerichtet. Es ist alles sehr improvisiert, aber uns gefällt es.« Er schritt auf die erste Höhle zu, ohne das gespielte Entsetzen in Phils Blick zu bemerken, den er Karen zuwarf.
Ein Loch im Sandstein, das man Jahre zuvor mit Backsteinen zugemauert hatte, war das erste Zeichen dafür, dass die Klippen nicht gerade stabil waren. Es fehlten einige Backsteine, und dahinter war nur Dunkelheit zu sehen. »Diese Öffnung und der Durchgang dahinter sind von Menschenhand angelegt«, erläuterte Haigh und zeigte auf die Backsteine. »Wie Sie sehen, reicht Court Cave weiter nach vorn als die anderen. Im neunzehnten Jahrhundert stieg das Wasser bei Flut bis zum Höhleneingang und schnitt East Wemyss von Buckhaven ab. Die Mädchen, die die Heringe ausnahmen, konnten bei Flut nicht zwischen den beiden Dörfern hin und her gehen, deshalb wurde ein Gang durch die Westseite der Höhle gegraben, durch den sie sich ohne Gefahr an der Küste entlangbewegen konnten. Wenn Sie mir folgen würden, betreten wir die Höhle jetzt durch den Osteingang.«
Als Karen gesagt hatte ›beim Gehen darüber sprechen‹, hatte sie das eigentlich nicht so gemeint. Aber da sie dies alles in ihrer Freizeit taten, waren sie ausnahmsweise einmal nicht in Eile, und wenn es Haigh beruhigte, konnte sich das zu ihrem Vorteil auswirken. Sie war froh, dass sie Jeans und Turnschuhe trug, und folgte den Männern zur Vorderseite der
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