Nacht unter Tag
Sie mir verraten, warum Sie so bald schon wieder zurück sind«, bat Grazia. »Sie sagten, es hätte etwas mit Arbeit zu tun?«
»Sozusagen«, antwortete Bel und musste sich anstrengen, ihr Italienisch wieder parat zu haben. »Sagen Sie mal, haben Sie bemerkt, dass sich in letzter Zeit bei dem alten Haus unten etwas getan hat?«
Grazia warf ihr einen misstrauischen Blick zu. »Wieso wissen Sie das? Die Carabinieri waren am Freitag dort. Sie haben sich umgesehen und gingen dann weg, um mit den Leuten in Boscolata zu sprechen. Aber was hat das mit Ihnen zu tun?«
»Als wir hier im Urlaub waren, habe ich mir die alte Villa angeschaut. Ich fand dort etwas, das mit einem ungelösten Verbrechen in England zu tun hat. Ein Fall, der zwanzig Jahre zurückliegt.«
»Was für ein Verbrechen?« Grazia sah ängstlich aus. Ihre Hände mit den geschwollenen Gelenken fuhren unruhig auf dem Tisch hin und her.
»Eine Frau und ihr kleiner Sohn wurden entführt. Aber bei der Übergabe des Lösegeldes ging etwas schief. Die Frau kam um, und man fand nie heraus, was mit dem Kind geschehen ist.« Bel breitete die Hände aus und zuckte mit den Schultern. Irgendwie kamen solche Gesten bei ihr einfach viel spontaner, wenn sie Italienisch sprach.
»Und Sie haben hier etwas gefunden, das damit in Verbindung steht?«
»Ja. Die Entführer nannten sich Anarchisten und übermittelten ihre Forderungen in Form eines Posters. Unten in der Villa fand ich genau so ein Poster.«
Grazia schüttelte erstaunt den Kopf. »Die Welt wird immer kleiner. Wann sind Sie denn zu den Carabinieri gegangen?«
»Ich bin überhaupt nicht hingegangen, weil ich dachte, sie würden mir nicht glauben. Oder wenn, dann würden sie sich nicht für etwas interessieren, das vor über zwanzig Jahren in Großbritannien passiert ist. Ich wartete, bis ich zu Hause war, dann ging ich zum Vater der Frau. Er ist ein sehr reicher, mächtiger Mann. So einer, der Dinge in Bewegung setzt.«
Grazia stieß ein leises grimmiges Lachen aus. »So einen würde man auch brauchen, um die Carabinieri dazu zu bringen, dass sie ihren Hintern bewegen und den ganzen Weg von Siena herkommen. Das erklärt, warum sie so dringend wissen wollten, wer in der Villa gelebt hat.«
»Ja. Ich fand, es sah aus, als hätten Hausbesetzer dort gewohnt.«
Grazia nickte. »Das Haus gehörte Paolo Totti. Er ist gestorben, vielleicht vor einem Dutzend Jahren. Ein einfältiger Mann, sehr eitel. Er hatte all sein Geld für ein großes Haus ausgegeben, um alle damit zu beeindrucken, aber er hatte nicht mehr genug übrig, um sich so um das Haus zu kümmern, wie es nötig gewesen wäre. Und dann starb er, ohne ein Testament zu hinterlassen. Seine Familie ist seit damals wegen der Villa zerstritten. Der Prozess wird weiter durch die Gerichte geschleppt, und jedes Jahr verfällt das Anwesen ein bisschen mehr. Niemand von der Familie tut irgendetwas, um es zu erhalten, denn er könnte ja am Ende vielleicht gar nichts bekommen. Seit Jahren schon kommen sie nicht mehr her. Und so ziehen manchmal irgendwelche Leute für eine Weile dort ein, bleiben den Sommer über und gehen dann wieder. Die letzte Gruppe, die ist länger geblieben.« Grazia trank ihren Kaffee aus und stand auf. »Ich kenne nur den Klatsch, aber wir werden nach Boscolata hinuntergehen und mit meinen Freunden dort sprechen. Sie können Ihnen viel mehr sagen als diese rechthaberischen Carabinieri.«
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Peterhead, Schottland
K aren musterte James Lawson genau, während er näher kam. Seine stramme Haltung mit erhobenem Kopf und geradem Rücken hatte er abgelegt. Seine Schultern waren herabgesunken, die Schritte kurz und angespannt. Drei Jahre Gefängnis hatten ihn stark altern lassen. Er ließ sich ihr gegenüber an der anderen Seite des Tisches mit einigem Getue und Herumgerutsche nieder, bis er endlich saß. Ein bescheidener Versuch, einen Teil des Gesprächs unter Kontrolle zu bekommen, dachte sie.
Dann sah er auf. Er hatte immer noch den matten, harten Blick des Polizisten, seine Augen glühten, sein Gesicht war wie aus Stein.
»Karen«, sagte er und begrüßte sie mit einem kurzen Nicken. Seine blassen, bläulichen Lippen pressten sich zu einer festen Linie zusammen.
Sie sah keinen Sinn darin, Small Talk zu machen. Es ließ sich kaum etwas sagen, was nicht direkt zu gegenseitigen Beschuldigungen und Bitterkeit geführt hätte. »Ich brauche Ihre Hilfe«, erklärte sie.
Lawsons Mund entspannte sich und verzog sich zu einem höhnischen
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