Nacht unter Tag
tatsächlich etwas darüber wissen könnten, was sich in dieser verfallenen Villa abgespielt hat.« Susan lächelte sie an. »Sie bekommen auf jeden Fall eine Reise in die Toskana spendiert, hin und zurück, alle Kosten inklusive.«
Das musste Bel sich nicht lange überlegen. Dies war wahrscheinlich ihre einzige Chance, mit einem Vorsprung vor der Polizei an neue Informationen zu kommen. »Woher wissen Sie, dass ich Italienisch spreche?«, versuchte sie die Entscheidung etwas zu verzögern, da sie nicht wollte, dass es so aussah, als sei sie allzu leicht zu überreden.
Ein kühles Lächeln. »Nicht nur Journalisten wissen, wie man recherchiert.«
Das hast du dir selbst zuzuschreiben
. »Wann soll ich starten?«
Susan reichte ihr die Mappe. »Morgen früh um sechs gibt es einen Flug nach Pisa. Er ist für Sie gebucht, und am Flughafen ist ein Mietwagen für Sie bestellt. Ich habe keine Unterkunft reservieren lassen; ich dachte, das würden Sie vielleicht lieber selbst organisieren. Die Kosten werden Ihnen natürlich erstattet.«
Bel war bestürzt. »Sechs Uhr morgens?«
»Es ist der einzige direkte Flug. Ich habe alles organisiert. Sie werden zum Flughafen gefahren. Es dauert um die Zeit morgens nur vierzig Minuten …«
»Ja, gut«, unterbrach Bel sie ungeduldig. »Sie waren wohl zuversichtlich, dass ich zustimmen würde.«
Susan legte die Mappe auf die Couch zwischen sich und Bel und stand auf. »Es war eine ziemlich sichere Sache.«
Jetzt war sie also hier und holperte auf einer Landstraße im Val d’Elsa an den Sonnenblumenfeldern vorbei, die gerade in voller herrlicher Blüte standen, und heiße Erregung pulsierte in ihrer Kehle. Sie wusste nicht, ob Brodie Grants Name ihr in Italien genauso leicht Türen öffnen würde wie in Schottland. Aber sie hatte den leisen Verdacht, dass er genau wusste, wie man die tiefverwurzelte Korruption, die hier allem zugrunde lag, zu Manipulationen nutzen konnte. Es gab heutzutage nichts in Italien, das sich nicht auf irgendeine Art »geschäftlich« regeln ließ.
Außer Freundschaft, natürlich. Und dank der Freundschaft hatte sie zumindest ein Dach über dem Kopf. Die Villa kam natürlich nicht in Frage. Nicht wegen der Kosten, sie war ziemlich sicher, die hätte Brodie Grant springen lassen, aber weil es Hochsaison in der Toskana war. Doch sie hatte Glück gehabt. Grazia und Maurizio hatten eine ihrer alten Scheunen in Ferienwohnungen umgewandelt, und die kleinste, ein Einzimmerappartement mit einer winzigen Terrasse, war gerade frei geworden. Als sie vom Flughafen aus anrief, wollte Grazia sie ihr gratis anbieten. Bel brauchte zehn Minuten, bis sie erklärt hatte, dass jemand ihre Kosten übernehme und Grazia ruhig den Preis so weit erhöhen konnte, wie sie wollte.
Bel bog von der Straße auf einen schmaleren, zerfurchten Feldweg ab, der sich durch einen Eichen- und Kastanienwald hinaufwand. Nach ungefähr einer Meile kam sie auf ein kleines Hochplateau mit einem Olivenhain und einem Maisfeld. Am Ende stand eine eng zusammengekauerte Häusergruppe hinter einem selbstgemalten Schild, auf dem
Boscolata
stand.
Bel nahm die scharfen Kurven, die sie durch die Bäume hindurch wieder zurückführten. Als sie die zweite Biegung hinter sich hatte, fuhr sie langsamer und spähte durch das Unterholz zu dem halbverfallenen Haus hinüber, wo alles begonnen hatte. Es war nichts zu sehen, was gezeigt hätte, dass es dort irgendetwas von Interesse gab, außer einem Stück rot-weißem Absperrband, das nachlässig vor das Tor gebunden war. So viel zu den Ermittlungen der italienischen Polizei.
Nach weiteren fünf Minuten schwieriger Fahrt hielt Bel auf Grazias Hof an. Ein brauner Hund mit hängenden Ohren und einer rosa Nase tanzte am Ende seiner Kette und bellte so draufgängerisch, wie das nur ein Hund tut, der weiß, niemand wird so nah herankommen, dass er zubeißen muss. Bevor Bel die Tür öffnen konnte, erschien Grazia schon auf den Stufen, die von der Loggia herunterführten, und wischte sich die Hände an der Schürze ab. Ihr Gesicht bekam von dem breiten Lächeln viele Falten.
Die ausführliche Begrüßung und Bels Einzug in die schön ausgestattete Wohnung dauerten eine halbe Stunde. Dies hatte den Vorteil, dass es Bel half, sich wieder in den Rhythmus der Sprache zu finden. Dann setzten sich die beiden Frauen mit einer Tasse Kaffee in Grazias dämmerige Küche, deren dicke Steinwände wie schon seit Hunderten von Jahren die Sommerhitze abhielten.
»Und jetzt müssen
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