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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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Schlucken, benetzte ihre Lippen, den trockenen Mund, die Kehle. Ihr Kopf pochte.
    Näpfe aus Blech wurden ausgeteilt, es gab eine wässrige Suppe mit einer halben Kartoffel darin. Da sie keine Löffel hatten, mussten sie die Suppe aus dem Napf trinken wie Tiere. Bereits eine halbe Stunde später erwachte der Hunger erneut. Wie ein Raubtier umkreiste er ihren Verstand, knurrte und sah sie hasserfüllt an.
    Ein Wachmann kam, um die Näpfe einzusammeln. Nadjeschka stutzte. Hatte sie bereits Halluzinationen? Oder war da wirklich eine vertrauliche Geste zwischen dem Pfarrer und dem Uniformierten, ein kurzes Streifen der Hände? Niemand sonst schien es zu bemerken.
    Sie nahm sich vor, den Pfarrer genauer im Auge zu behalten. Wie alle anderen legte sie sich schlafen, aber nur zum Schein. Als auch Oksana wegdämmerte, obwohl sie zuerst befürchtet hatte, auf dem harten Boden unmöglich schlafen zu können, bemerkte Nadjeschka eine Bewegung an der Tür. Der Pfarrer entfaltete einen winzigen Zettel und hielt ihn in den Lichtschein, der unter der Tür hineinfiel. Rasch knüllte er ihn wieder zusammen und steckte ihn sich in den Mund.
    Bespitzelte er etwa die Gefangenen? Aber dann musste er ja keine Nachrichten erhalten, sondern den Wärtern Botschaften übermitteln. Außerdem konnten sie ihn zur Täuschung der anderen für ein Verhör wegholen und ihn dann in Ruhe ausfragen. Sein zerschundener Körper war doch echt gewesen!
    Der Zettel sah eher danach aus, als habe er einen geheimen Verbündeten bei den Wachen. Wozu sonst hatte er den Zettel heruntergeschluckt? Niemand durfte ihn bei ihm finden.
    Was tat der Verbündete für ihn? Schmuggelte er etwas hinein oder hinaus? Warum schrieb er Nachrichten?
    Leise stand sie auf und stieg über Oksanas Beine. Sie schlich zur Tür, hockte sich neben den Pfarrer und wisperte ihm ins Ohr: »Wenn Sie ausbrechen, nehmen Sie mich mit.«
    Er zog sie runter zum Boden. »Mädchen«, flüsterte er, »du hast nichts gesehen, hörst du?«
    »Wie kommen Sie hier raus?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Weihen Sie mich ein. Oder ich verrate Sie.«
    Er schloss die Augen, als habe sie ihm einen schmerzhaften Schlag verpasst. »Du verstehst nicht! Gestern haben sie hier einen totgeprügelt. Kein Hahn kräht danach. Er wurde einfach verscharrt. Wenn du dich ordentlich benimmst, kannst du überleben.«
    Jemand grunzte im Schlaf. Sie schwieg lange und lauschte auf die Atemzüge der anderen. Dann flüsterte sie: »Ich bin nicht die feige Frau, für die Sie mich halten. Ich habe in der Fabrik sabotiert. Niemand weiß, dass ich es war.«
    Verblüfft hob er die Brauen.
    »Ich schaffe diese Flucht. Nehmen Sie mich mit!«
    »Es geht nicht. Wirklich.«
    »Schwören Sie bei Gott, dass Sie mich mitnehmen, oder ich schlage Alarm und verrate Sie an die Wachen.«
    Wieder war es lange still. Schließlich fragte er: »Wie heißt du?«
    »Nadjeschka.«
    »Hör zu, Nadjeschka. Es geht hier nicht um mich und dich. Es geht um eine Menge anderer Leute. Ich kann dir das nicht erklären. Aber ich bitte dich, halte dich aus der Sache raus. Sonst sterben sie alle.«

27
    Der Wachmann, der an diesem Morgen die Arbeiter auswählte, war derselbe, der dem Pfarrer den Zettel zugesteckt hatte. Ein blutjunger Kerl mit Pickeln im Gesicht. Diesmal sollte der Pfarrer mitkommen, außerdem die meisten, die auch gestern fort gewesen waren. Nadjeschka und Oksana sollten bleiben.
    Sie riss Oksana am Arm und raunte ihr ins Ohr: »Wir müssen mitgehen.«
    Oksanas Körper versteifte sich. »Nein.«
    »Vertrau mir, bitte!«
    Die Gefangenen sammelten sich an der Tür.
    Oksana schüttelte ihren Griff ab. »Lass mich. Ich will leben! Für meine Kinder.«
    Viel Zeit blieb nicht, schon gingen die letzten Gefangenen durch den Türrahmen. Der Pfarrer, der ganz am Ende lief, warf ihr einen warnenden Blick zu.
    »Hast du gesehen, wie er mich angeschaut hat? Er wird ausbrechen. Jetzt oder nie, Oksana!«
    »Ich mache so was nicht noch mal. Die hängen uns auf.«
    »Ich muss es tun! Ich gehe mit.« Sie drückte ihr die Hand. »Eines Tages sehen wir uns in der Ukraine.« Sie stellte sich hinter dem Pfarrer an und folgte den Arbeitern. Der Wachmann, der die Tür schloss, sagte nichts.
    Ihr Puls raste. Sie starrte auf den spärlich behaarten Hinterkopf des Pfarrers und seinen glänzenden Schädel. Schweigend stiegen sie die Treppe hinauf. Obwohl der Wachmann hinter ihnen ging, scherte der Pfarrer, kaum dass sie oben angekommen waren, plötzlich links aus. Nadjeschka

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