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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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ich habe Freunde in Dortmund. Vielleicht leben sie gar nicht mehr.«
    Sie betrachtete die Frauen, die ihnen gegenüber an der Wand lehnten. Sie waren abgemagert, und ihre Augen glänzten fiebrig. Diese Arme, dünn wie Zweige! Die Beine waren voller Schürfwunden und glichen zwei Stecken. Waren die Frauen so hier angekommen, oder hatte dieser Ort ihnen das angetan? Sie fragte: »Gibt es Wasser hier? Ich hab Durst.«
    »Tut mir leid«, sagte er. »Mit dem Essen und Trinken ist es auf dem Plettenberg etwas schwierig.«
    Die fiebernden Frauen auf der anderen Seite lachten heiser.
    »Wir bekommen was«, sagte er, »nachher, wenn die anderen von der Arbeit zurück sind.«
    »Sie lassen uns arbeiten?«
    »Jeden Morgen greifen sie sich ein paar.«
    Verständlich, dass man die Frauen hiergelassen hatte. Aber der Mann sah kräftig aus, er saß bestimmt noch nicht lange ein. »Warum sind Sie hier?«, fragte sie.
    Er überging ihre Frage. »Kennt ihr den? Goebbels eröffnet das jährliche Winterhilfswerk: Keiner soll hungern, ohne zu frieren.«
    Die abgemagerten Frauen grinsten.
    »Ich finde das nicht lustig«, sagte Nadjeschka.
    »Bitte«, sagte eine der Frauen, »noch einen!«
    »Also gut.« Der Mann schmunzelte. »Mein Nachbar ist gestorben. – Woran denn? – Er lag verkohlt im Wohnzimmer vor dem Volksempfänger.«
    Die Frauen kicherten. Nadjeschka wandte sich ab. Der Witz bold hatte doch keine Ahnung! Weder vom Krieg noch von den Verschleppten, den Entrechteten. Er machte Scherze auf ihre Kosten. Er nutzte den Krieg als Spielwiese, um seinen Humor an den Mann zu bringen. So ein widerwärtiger Kerl. Sie mochte nicht mehr neben ihm sitzen. Sie stand auf und setzte sich in die Ecke neben der Tür, wo sie für sich sein konnte.
    Der Mann wurde ernst. »Ich bin Pfarrer und habe mit zu viel Humor gepredigt. Deshalb bin ich hier. Im Vergleich zur Steinwache ist es eine Erholung. In Dortmund haben sie mich auf den Prügelbock gespannt, weil sie Namen von Komplizen hören wollten. Und mit Stöcken zugeschlagen, bis ich ohnmächtig wurde.« Er hob das Hemd und drehte den Oberkörper zur Seite. Sein Rücken war übersät mit roten und blauen Blutergüssen. »Meine Nieren sind hinüber. Ich pinkle Blut.«
    Wie konnte er bei diesen Schmerzen weiter Witze erzählen? Vielleicht war es seine einzige Möglichkeit zu überleben. »Tut mir leid«, sagte sie.
    Sie schwiegen.
    Nadjeschka musste an das gleichförmige Kada-Kadang der Eisenräder auf den Gleisen denken, an den Güterwagen, der über die Schienenstränge gerattert war und sie von zu Hause fortgebracht hatte. Sie dachte an das faulige Stroh, das in Schlieren am Boden des Waggons klebte. In der Ecke hatte eine Tote gelegen. Und dann war da das kreisrunde Loch gewesen, durch das sie alle ihre Notdurft verrichteten. Es gab einen Deckel, aber sie hielten das Loch offen, damit Luft hereinzog, sonst wären sie schon in der ersten Woche erstickt. Neben ihr kauerte dieser Junge aus Odessa und wimmerte, dessen Mutter zu kraftlos, zu apathisch war, um ihn noch zu trösten. Ein immerwährender Albtraum hatte damals begonnen, bis heute gab es kein Erwachen: Kada-Kadang, eine weiterer Tag, Kada-Kadang.
    Ich komme nie wieder heim, dachte sie. Sie schlang die Arme um die Knie und legte den Kopf darauf. Ihr Hintern war schon eiskalt vom Steinboden.
    Oksana kam herüber und setzte sich neben sie. »Ich hätte dich abhalten müssen von diesem dummen Fluchtversuch. Verzeihst du mir?«
    »Du bittest mich um Verzeihung? Ich hab dich schließlich reingeritten!«
    Oksana legte ihr die Hand auf die Schulter. »Vergessen wir, was passiert ist. Schlimm genug, in was für ein Loch sie uns gesteckt haben. Jetzt müssen wir gemeinsam durchhalten.«
    »Danke.« Sie umarmte die Freundin. »Was wäre ich nur ohne dich?«
    Zäh krochen die Stunden vorwärts. Bald spürte Nadjeschka den Hunger nicht mehr, da war nur noch Durst. Ihre Zunge klebte am trockenen Gaumen. Sie fuhr sich mit den Fingern über die aufgesprungenen Lippen, konnte an nichts anderes mehr denken als an Georg und an Wasser. Sie hatte ihm das Herz gebrochen. Er musste glauben, sie habe ihn nur aushorchen wollen. Dabei fühlte sie sich berührt von seinen Blicken, seiner Güte, seiner Umarmung, als sie am Ende gewesen war mit ihrer Kraft. Erst im Auto der Gestapo hatte sie begriffen, wie sehr sie ihn liebte.
    Am Abend kehrten die Arbeiter zurück. Viele von ihnen waren ausgemergelt. Sie bekamen Getreidekaffee. Nadjeschka trank davon in kleinen

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