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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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unterbrach ihn der Mann. »Achtzig Industrieanlagen beschädigt, Hoesch AG , Dortmunder Union und Hafenanlagen. Britischer und amerikanischer Bombenterror. Aber das jagt uns doch nicht ins Bockshorn, meine Herren! Terror wird mit Gegenterror gebrochen. Das werden sie bald erleben, die alliierten Dummköpfe. Uns kann die Sache nur nützen. Sie schürt den Hass auf die Engländer, und mit Hass im Herzen kämpft es sich gut.«
    »Wir reichen die Papiere nach«, bot der Fahrer an.
    Der Mann musterte Nadjeschka. »Woher kommen die Frauen?«
    »Aus Neheim. Das Lager auf den Möhnewiesen.«
    »Aha. Polacken.«
    Ich bin Ukrainerin, wollte Nadjeschka sagen. Aber wie er aussah, würde er ihr dafür die Zähne aus dem Mund schlagen. Also schwieg sie.
    »Arbeitsfaul?«, fragte der Mann.
    »Nein, sie sind geflohen. Kamen bis zur Talsperre.«
    Er nickte. »Schafft sie in den Keller.«
    Es ging eine Treppe hinab. In einem weiß gekachelten Raum wurde ihnen befohlen, sich ausziehen. Nadjeschka kroch es eiskalt den Rücken hinunter. Der Befehl wurde wiederholt, lauter. Widerstrebend gehorchte sie, ebenso Oksana.
    Die Männer der Geheimen Staatspolizei ließen tückisch ihre Blicke über die nackten Körper streifen. Ein Mann im Kittel kam herein und untersuchte zuerst Oksana, dann sie. Er sah ihr in den Mund und in die Ohren. Er schimpfte: »Verlaustes Pack! Da wohnt ja jeder eine ganze Kolonie auf dem Kopf!« Mit einem Messer schnitt er ihnen die Haare ab, sie fielen in dicken Büscheln zu Boden. »Zieht euch die Unterwäsche wieder an und setzt euch da hin.«
    Zitternd vor Wut wegen der Erniedrigung und gleichzeitig vor Angst setzten sie sich auf die gewiesene Bank. Der Mann im Kittel schmierte ihnen die kurzen Haare mit Petroleum ein. Es stank scharf und biss regelrecht in der Nase, aber Nadjeschka begann zu hoffen, ihr Herz weitete sich, sie dachte: Wenn sie etwas gegen die Läuse tun, dann töten sie uns nicht.
    »Was hast du da? Was versteckst du in deiner Faust?«
    Sie zeigte widerwillig den Stein her, den schönen aus der Heimat.
    Er nahm ihn und kratzte daran, als wolle er sichergehen, dass sich unter der blau schimmernden Oberfläche kein Gold verbarg. Enttäuscht warf er den Stein in den Mülleimer, er plumpste laut hinein. »Eure Kleider kommen in die Entwesung. Die sind voller Flöhe und Milben. Hier, zieht das an!« Er warf ihnen ein Bündel hin.
    Nadjeschka hasste ihn dafür, dass er ihr das Kostbarste genommen hatte. Sie schlüpfte in ein dünnes Hemd und in die löcherige Hose von ausgewaschenem Blau. Die Hose war ihr so weit, dass sie den Bund festhalten musste, damit sie nicht hinunterrutschte. Oksana zwängte sich mit ihren knochigen breiten Schultern in einen kleinen Kittel.
    Der Mann lachte. »Ihr seht aus wie Dick und Doof.«
    Sie zogen sich aus und tauschten die Kleider.
    »Schafft sie zu den anderen.«
    Die Männer der Gestapo führten sie durch einen dunklen, feuchten Korridor. Sie öffneten eine Eisentür. Der Raum dahinter war leer, bis auf ein paar Kreaturen am Boden. Eine hässliche Lampe hing von der Decke. Die Tür schloss sich hinter ihnen, hart schnappte der Riegel ein.
    Sie standen da und starrten auf die Betonwände.
    Ein kahlköpfiger Mann klopfte neben sich auf den Boden. »Setzt euch. Junge, ihr stinkt nach Benzin! Läuse?«
    Erst zögerte sie, dann setzte sich Nadjeschka neben ihn. Oksana folgte ihr und ließ sich ebenfalls nieder. Der Betonboden war kalt. Es gab keine Stühle, nicht einmal eine Pritsche. Und sie fühlte sich immer noch nackt. »Die sind jetzt wohl alle tot.«
    »Gibt es Neuigkeiten von draußen?«, fragte er.
    »Wie meinen Sie das?«
    »Es geht das Gerücht, dass sie einen Aufstand gewagt haben. Im Warschauer Ghetto haben sich die Leute bewaffnet und kämpfen gegen die deutschen Besatzer.«
    »Davon weiß ich nichts.« Sie warf einen prüfenden Blick auf ihn. Er hatte kluge Augen und dickfleischige Ohren. Er sah deutsch aus, irgendwie. »Sie sind doch selbst Deutscher.«
    »Ja, bin ich. Trotzdem wünsch ich mir, dass der Krieg bald zu Ende ist.«
    Oksana sagte: »Dortmund wurde letzte Nacht bombardiert. Da ist alles kaputt.«
    Die Frauen auf der anderen Seite hoben interessiert die Köpfe. Der Deutsche sagte: »Wir haben sie herausgefordert, haben aufgehört, nur Industriegebiete zu bombardieren, und die Innenstädte angegriffen. Jetzt machen sie dasselbe bei uns.« Er rieb sich die Augen. »Soll ich mich darüber freuen? Ich weiß es nicht. Es wird den Krieg verkürzen. Aber

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