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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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und wollte mich Ihnen kurz vorstellen.«
    »Davon habe ich nichts gehört.« Sein Blick fiel auf die Luftfotos. »Woher haben Sie …?« Mit einer Behändigkeit, die sie ihm nicht zugetraut hätte, zog er seinen Revolver aus dem Halfter.
    Sie schnellte auf ihn zu. Er hatte die Waffe noch nicht entsichert – auf das leise Knirschen der Sicherung waren alle ihre Instinkte trainiert, das überhörte sie nie. Sie schlug seine Hände herunter und knallte ihm gleichzeitig das Knie in den Bauch. Aber die Pistole entfiel ihm nicht, er ächzte zwar und krümmte sich, trotzdem hielt er sie weiter fest. Sie griff nach der Kaffeetasse, schüttete ihm die noch warme Brühe ins Gesicht.
    Er gab keinerlei Geräusch von sich. Tat diesem Engländer überhaupt nichts weh? Sie packte seine Hände und versuchte, ihm den Revolver zu entwinden. Krallte ihm die Fingernägel ins Fleisch. Erfolglos.
    Mit einem Ruck schlang er seinen Arm um ihren Hals und drückte zu. Sie hätte besser fliehen und das Risiko hinnehmen sollen, dass er Alarm auslöste. Sie trat nach seinem Schienbein. Endlich stöhnte er auf. Ja, das tut dir weh, dachte sie. Sie trat noch einmal zu. Sein Griff lockerte sich.
    Da – das Knirschen der Sicherung. Sie spürte den Stahl der Waffe an ihrer Schläfe. »Schon gut, schon gut«, sagte sie. »Schießen Sie nicht. Ich ergebe mich.«

26
    Nadjeschka wurde jäh aus ihrer Trauer gerissen. Sie konnte nicht glauben, was sie durch die Autoscheiben sah. »Wo sind wir?«, fragte sie.
    Oksana antwortete tonlos: »Dortmund.«
    Sie fuhren in eine glühende, schmauchende Steinwüste. Verbogene Eisengerüste, verbrannte Balken und hügelhoher Schutt versperrten ihnen den Weg, dazwischen lagen Erdtrichter, von Bomben gerissen. Die Gestapomänner vorn im Auto sahen stumm auf die Trümmerberge. Der Fahrer trat auf die Bremse, legte den Rückwärtsgang ein. Eine Mauer zerbröckelte, sie hielt der Hitze der glühenden Eisenteile nicht länger stand. Steine prasselten auf den Gehweg nieder.
    Sie wendeten, suchten einen anderen Weg in die Stadt hinein. An den Straßenrändern lagen Leichen, zur Größe von Kindern zusammengeschmort. Überlebende schleppten Bündel. Einer trug eine Stehlampe, wohl das Einzige, das er aus seiner Wohnung hatte retten können. Auf staubbedeckten Wiesen saßen sie zu Hunderten mit den Resten ihrer Habe.
    Der Mann auf dem Beifahrersitz sagte leise: »Ich hab gewusst, dass es einen Angriff auf Dortmund gab. Aber dass es so schlimm aussieht …«
    »Schau dir die Propsteikirche an«, raunte der Fahrer.
    Nadjeschka folgte seinem Blick. Von der Kirche waren nur noch die Umfassungsmauern geblieben, feuergeschwärzt. Sie fuhren in einer schmalen Rinne, die man vom Schutt freigeräumt hatte, weiter bis zum Hauptbahnhof. Dessen Dach war wie von einer Riesenfaust eingedrückt. Ausgebombte Bahnwaggons lagen quer über verbogenen Schienensträngen.
    »Komm, wir lassen das mit der Steinwache. Ich fahr gleich zum Plettenberg.« Der Fahrer wendete erneut. »Die haben doch jetzt ganz andere Probleme.«
    Sie verließen die verwüstete Stadt. Was hatten sie mit ihnen vor? Fuhren sie zur Hinrichtung? Es ging wieder über eine Landstraße. Nadjeschka dachte: Wäre ich doch in Dortmund aus dem Wagen gesprungen! Vielleicht hätte ich über die Trümmer entkommen können.
    Am Straßenrand humpelten Menschen, ganze Familien. Gerettetes Kochgeschirr klirrte. Je weiter sie sich von Dortmund entfernten, desto leerer wurden die Straßenränder. Die Halme des Winterroggens wogten auf den Feldern rechts und links der Straße.
    Ein Ortsschild nannte Soest »judenfrei«. Sie fuhren eine Straße hügelan und hielten vor einem mehrstöckigen, fensterlosen Gebäude. Das dunkle Ziegelhaus machte ihr Angst.
    Die beiden Gestapomänner stiegen aus und öffneten die hinteren Türen. Sie packten Oksana und sie an den Oberarmen und stießen sie zur Tür eines Anbaus.
    Ein Wachposten knallte die Hacken zusammen und grüßte mit ausgestrecktem Arm. »Heil Hitler!« Er ließ sie ein.
    Sie mussten in einem Büroraum warten. Es roch verführerisch nach Kaffee. Nadjeschka knurrte der Magen.
    Ein Mann in Zivil kam herein, sah sie mit stechendem Blick an und verlangte Überweisungspapiere.
    »Haben wir nicht«, sagte der Fahrer. »Dortmund ist hart getroffen, die haben jetzt andere Sorgen in der Steinwache als den Papierkram.«
    »Ohne Papiere läuft hier nichts.«
    »Wir waren gerade in Dortmund. Die Stadt …«
    »Ich weiß, was letzte Nacht passiert ist«,

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