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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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und hinter der Hausecke in Deckung gehen konnte! Ihr Atem ging schwer, die Beine waren wie aus Blei.
    Endlich das Haus.
    Sie stürmte um die Ecke und die Straße hinunter. Wohin konnte sie fliehen? Wo sich verstecken? Die Hunde würden ihre Fährte aufspüren, die waren nicht zu besiegen, am Ende würde auch sie ein Schuss niederstrecken wie den Pfarrer.
    Denk nach, denk nach, Nadjeschka! Sie überlegte im Rennen, Abenteuergeschichten fielen ihr ein, die sie ihrem Bruder abends vorgelesen hatte. Fliehende Sklaven in Nordamerika hatten Fische über ihre Fährte geschwenkt, weil der stechende Geruch die Nasen der Spürhunde für einige Zeit betäubte. Oder sie waren durch den Mississippi geschwommen, im Wasser hinterließ man keine Duftmarken.
    Da, der Soester Bahnhof, hier waren sie angekommen vor zwei Wochen. Sie erkannte die Ziegelgebäude wieder und die vielen Schienenstränge. Nadjeschka sah sich um. Sie hörte von ferne das Kläffen. Scheinbar hatte sie die Verfolger abgehängt für den Moment, vielleicht waren sie mit dem Schleuser beschäftigt, er kannte sich aus, mochte eine gute Fluchtroute haben. Das würde ihr Zeit verschaffen.
    Sie verlangsamte ihre Schritte, um nicht aufzufallen. Wenn sie Schmiere fand oder Öl, konnte sie damit ihren eigenen Geruch überdecken? Aber vielleicht rochen die Hunde ja gar nicht ihren Körpergeruch, sondern das Petroleum, das immer noch in ihren Haaren klebte. Diesen Gestank konnte sie unmöglich loswerden.
    Hinter einem Schuppen kauerte sie sich nieder und spähte umher. Arbeiter zurrten an einem Panzer eine Plane fest, die sich gelöst hatte. Der ganze lange Zug war mit Panzern beladen, ihre Rohre abwechselnd nach vorn und nach hinten gerichtet. Die Lok stieß einen Pfiff aus und dampfte los. Dicker schwarzer Rauch quoll aus ihrem Schornstein und wurde von Windböen auf die Arbeiter geblasen.
    Das war ihre Gelegenheit. Nadjeschka schnellte aus ihrem Versteck. Sie lief neben dem fahrenden Zug her, fasste nach einem Eisengriff, zog sich hoch. Keuchend kroch sie unter einen Panzer. Dicht bei ihr ratterten die Waggonräder. Kein Bellen, keine Schüsse. Sie lauschte: auch keine wütenden Rufe. Nur das Rattern der Räder.
    Jetzt hatte sie das Bild des erschossenen Pfarrers vor Augen, wie er dalag, die Arme ausgestreckt. Er war so mutig gewesen, so entschlossen! Wie konnten sie einen Mann erschießen, der dieses wunderbare Löwenherz besaß, ihn einfach beseitigen, als wäre es nichts!
    Sie lag unter einem Panzer im Großdeutschen Reich, und Männer mit Gewehren und Hunden machten Jagd auf sie. Sie hatte Oksana auf dem Plettenberg zurückgelassen, man würde sie verhören, wieder und wieder, und sie würde noch mehr abmagern von dem bisschen Suppe am Tag.
    Wenn die Wachleute der Fährte bis zum Bahnhof folgten und sie an den Gleisen endete, war es ein Leichtes, rasch in Erfahrung zu bringen, auf welchen Zug Nadjeschka aufgesprungen war. Sie musste hier weg, ehe man den Zug anhielt und sie suchte.
    Sie robbte ein Stück vor, sodass sie seitlich an den Panzerketten vorbeisehen konnte. Die Häuserreihen endeten, der Zug fuhr hinaus ins Grüne. Bäume zogen vorbei, Sträucher. Besser, sie sprang ab, bevor der Zug noch mehr Fahrt aufnahm, die Lok stampfte bereits schneller und schneller. Sie kroch aus ihrem Versteck, stellte sich an den Rand des Waggons und hielt sich am Panzer fest.
    Als sie ins Gras hinuntersah, wurde ihr flau im Magen. Brach sie sich nicht das Genick, wenn sie bei dieser Geschwindigkeit vom Zug sprang?
    Sie dachte an Georg, an seinen schmerzerfüllten Blick. Um sich Mut zu machen, schaute sie auf die Bäume in einigen Metern Entfernung, ihnen konnte das Auge leichter folgen. Sie stieß sich vom Wagen ab.
    Der Boden empfing sie mit einem harten Schlag, dem weitere Schläge folgten, sie wusste nicht, wo oben und unten war, etwas krachte gegen ihren Kopf, gegen die Schulter, gegen die Hüfte.
    Schließlich blieb sie liegen. Die letzten Panzer fuhren vorüber, das Kada-Kadang entfernte sich. Vorsichtig bewegte sie ihre Arme, ihre Beine. Sie betastete den Kopf, die Rippen.
    Sie zwang sich, aufzustehen. Ihre Haut war zerschunden und der Kittel unter der Achsel gerissen. Sie schleppte sich fort von den Gleisen, stieß auf die von Bäumen gesäumte Landstraße. Am Straßenrand stolperte sie entlang. Holt mich doch, dachte sie, haltet an mit einem eurer verfluchten Autos und erschießt mich.
    Wut und Angst trieben sie vorwärts.

28
    Als Eric den Raum betrat, schrak Nachtauge

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