Nachtauge
folgte ihm in einen lichtlosen Raum.
Der Wachmann ging vorüber, als habe er nichts gesehen.
Es roch nach Leder und Eisen. Grobe Werkbänke standen im Dämmerlicht, mit Schraubstöcken und anderem Gerät. Der Pfarrer war, seinem Blick nach, kurz davor, ihr an die Gurgel zu gehen. »Du machst alles kaputt. Alles!«
Sein Zorn verunsicherte sie. Sie umklammerte hinter ihrem Rücken eine Werkbank.
Er schlich zur Tür und spähte hinaus. Eine endlose halbe Stunde stand er so, dann verließ er den Raum. Sie folgte ihm, ließ kaum eine Armlänge zwischen sie kommen, aus Angst, abgehängt zu werden. Wenn man sie irgendwo hier im Gebäude entdeckte, würde die Hölle losbrechen.
Die Tür des Büros, in dem sie gestern empfangen worden waren, war geschlossen. Der Pfarrer schritt eilig daran vorbei und trat nach draußen. Auch hier stand keine Wache mehr. Ein Motor wurde angelassen, ein Stück weiter die Straße hinauf. Ein Lieferwagen mit Rollen von Stacheldraht auf der Ladefläche fuhr heran und hielt. Der Pfarrer öffnete die Beifahrertür. Er sah sich nach ihr um. »Schnell!«, befahl er. Sie kletterte ins Fahrerhäuschen, er kam ihr nach und schloss die Tür.
»Wer ist das?«, fragte der Fahrer. Er kuppelte, schaltete und fuhr an.
»Sie wollte mit.« Der Pfarrer fuhr sich nervös über das Gesicht und sah in den Rückspiegel.
»Sind Sie wahnsinnig? Das geht nicht, sie ist nicht gemeldet! Wer hat sie überprüft? Was, wenn die Gestapo sie eingeschleust hat?«
Er seufzte: »Ich hatte keine Wahl.«
Der Lieferwagen hielt abrupt. »Raus mit ihr. Mann, ich werde mir ein neues Auto besorgen müssen und einen neuen Unterschlupf, ich muss wahrscheinlich die Stadt wechseln wegen Ihnen!«
»Wir nehmen sie mit«, sagte der Pfarrer.
»Ich muss die Anzahl der Pakete anmelden, das wissen Sie genau.«
»Fahren Sie weiter. Ich kläre es mit Leo.«
Der Fahrer schnaubte und gab Gas. »Leo wird Sie einen Kopf kürzer machen. Woher wollen Sie wissen, dass sie kein Spitzel ist?«
»Menschenkenntnis.«
An einem Grünstreifen hielten sie. »Raus!«, befahl der Fahrer. »Wenn sich Leo nicht heute noch bei mir meldet, bin ich weg.«
»Er wird sich melden.« Der Pfarrer stieg aus.
Nadjeschka kletterte ebenfalls hinaus. Ihr Gesicht war taub vor Angst. Sie folgte dem Pfarrer zu einer Parkbank. Er setzte sich hin, als müsse er nachdenken.
»Was wird jetzt aus uns?«, fragte sie.
»Wir dürfen kein Aufsehen erregen. Machen Sie nicht dieses Gesicht. Jeder sieht Ihnen an, dass Sie Todesangst haben.« Er griff unter den Sitz der Bank, zog einen Beutel heraus und entnahm ihm eine Zeitung. Völkischer Beobachter , war sie überschrieben.
»Wer hat das hier versteckt?«
»Je weniger du weißt, desto besser.« Er faltete die Zeitung auf.
»Was meinte er mit Paketen? Und wer ist Leo?«
Er sagte, hinter der Zeitung hervor: »Wenn du überleben willst, beruhige dich. Tu so, als würdest du entspannt hier sitzen und dich ausruhen.«
»Worauf warten wir? Wir müssen aus der Stadt verschwinden.«
»Wir werden abgeholt.«
»Von wem?«
»Weiß ich nicht. Der Schleuserring hat seit Monaten kaum Verluste gehabt, weil er in Zellen eingeteilt ist. Es ist sicherer, wenn man sich nicht kennt.«
»Aber woher wussten Sie davon? Ich meine, wie haben Sie vom Fluchtweg gehört?«
»Ich war selbst Teil des Rings. Bis man mich wegen eines blödsinnigen Verdachts gefasst hat.«
Sie dachte nach. »Wenn niemand vom anderen weiß, wie kann es dann sein, dass jemand uns abholt? Er hat doch keine Ahnung davon, dass wir hier sitzen.«
Er senkte kurz die Zeitung und lächelte. »Siehst du? Du bist kein Spitzel. Du stellst zu offensichtliche Fragen, ein Spitzel würde versuchen, seine Neugier zu vertuschen. Außerdem ist deine Angst echt.«
»Und woher weiß man nun, dass wir hier sind?«
»Hör auf, dich so umzusehen.« Er vertiefte sich erneut in die Lektüre. Nach einer Weile sagte er: »Jeder weiß nur eine Telefonnummer. Dort ruft er an und sagt durch, dass ein Paket den Fluchtweg entlanggesandt wird. Daraufhin geht der Angerufene zum Übergabeort und holt es ab. Die beiden sehen sich nie. Ist sicherer so.«
»Und wenn man jemanden warnen muss? Wenn Gefahr droht?«
»Dann ruft man an und bittet, ob man vorbeikommen darf. Sagt der andere, nein, auf keinen Fall, dann geht man hin. Sagt er, ja bitte, komm vorbei, dann heißt es, dass die Gestapo da ist, und man verschwindet besser.« Er blätterte um. »Wir könnten dich gebrauchen. Wenn sich der
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