Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
Vom Netzwerk:
merklich zusammen. »Ja, ich lebe noch«, sagte er. Herrlich, wie sein Anblick sie ärgerte!
    Man hatte sie mit Handschellen an den Stuhl gefesselt und die Rollos zugezogen. Eine Schreibtischlampe war ihr ins Gesicht gedreht worden, aber sie war ausgeschaltet, offenbar hatte das übliche Verfahren bei ihr keine Wirkung gezeigt.
    Ein volles Wasserglas stand außerhalb ihrer Reichweite. Der Schlafentzug und der Durst schienen ihr noch nichts anzuhaben, Nachtauge wirkte wach und konzentriert.
    Er setzte sich ihr gegenüber. Die beiden Soldaten schickte er mit einer Kopfbewegung nach draußen. Er mus terte sie und wurde sich gleichzeitig dessen bewusst, dass sein forschender Blick ihr verriet, wie ernst er sie nahm. Längst hatte sie sich wieder gefasst und sah ihm unbewegt entgegen.
    Vor Jahren war ihm einmal aufgefallen, dass manche Menschen größere Pupillen besaßen und dass Frauen mit großen Pupillen eine starke Anziehungskraft auf ihn ausübten. Der Blick solcher Frauen hatte Tiefe, er war rätselhafter.
    In den Augen der Spionin fand er herrlich weite Pupillen. Die blonden Korkenzieherlocken umrahmten mädchenhaft ihr Gesicht, was dazu verleitete, sie zu unterschätzen. Bühnenmagier hatten immer eine hübsche Assistentin, die mit ihrer Schönheit die Zuschauer ablenkte. Als Spionin war sie beides in einem, Magierin und Assistentin. Sie lenkte ihre Opfer ab mit ihren Reizen und führte zugleich den tückischen Zauber durch. Der Unterschied zum Bühnenmagier bestand darin, dass dieser nur in eine peinliche Situation geriet, wenn er einen Fehler machte. Beging sie hingegen einen, endete es tödlich für sie.
    Analysiert auch sie mich gerade, dachte er mit leisem Schauder. Was gibt meine Miene preis? Er wusste, dass sie eine Mörderin war. Und sein Herz gehörte Connie. Aber er musste sich eingestehen, dass es ihn erregte, Nachtauge gegenüberzusitzen und den Blick über das Gesicht dieser Frau wandern zu lassen.
    Mach so weiter, und du bist am Ende nicht nur angeschossen, sondern tot, ermahnte er sich. Sie würde jede kleine Schwäche ausnutzen. Nachtauge kannte keine Gnade. Er musste dieses Geschöpf zur Strecke bringen, ein für alle Mal.
    »Ich weiß, Sie haben ein Training absolviert, um in solchen Verhörsituationen nichts preiszugeben«, sagte er. »Ihnen ist klar, dass Ihnen der Tod droht. Vermutlich haben Sie sich vorgenommen, mit dem Gefühl zu sterben, Ihrer Sache einen letzten Dienst zu erweisen. Also lassen Sie uns herausfinden, wer von uns beiden die Oberhand gewinnt. Sie halten sich für überlegen, und ich halte mich für überlegen. Finden wir heraus, wer im Recht ist.«
    Ihr Gesicht verriet nichts, zeigte keine Regung.
    »Auch ich habe etwas zu verlieren in diesem Verhör. Oft verrät man durch seine Fragen mehr, als man möchte. Und das wissen Sie.«
    Neugier blitzte in ihrem Blick auf.
    »Bei den Deutschen, die wir umgedreht haben, war für uns vor allem von Interesse, welche Informationen über uns sie für die Abwehr beschaffen sollten. Welche Fragen man ihnen gestellt hatte. Denn die Fragen offenbaren viel über den Fragesteller und seine Interessen. Ich zum Beispiel möchte gern wissen, wie viel Sie hier in Scampton in Erfahrung gebracht haben. Allein schon durch die Frage gebe ich Ihnen preis, dass es etwas Entscheidendes zu erfahren gibt und dass wir fürchten, Sie könnten es entdeckt haben.«
    Ihre Nasenflügel weiteten sich ein wenig.
    »Aber auch Sie haben mir etwas über sich verraten.«
    »Und das wäre?«
    Endlich. Sie sprach mit ihm. Das Spiel begann. Wer bist du, dachte er. Was treibt dich an? Manche wurden Agenten, weil sie Macht ausüben wollten. Auch für eine Frau war das eine mögliche Motivation – sie manipulierte die Männer und genoss die Überlegenheit, Dinge zu wissen, die Normalsterblichen vorenthalten wurden.
    Andere wurden von der Neugier getrieben. Sie liebten es, Geheimnissen auf der Spur zu sein, tief einzutauchen in das große Spiel, das den Lauf der Welt bestimmte. Ihr Wissensdurst hatte sie zum Geheimdienst geführt, und sie waren in ihrer Klugheit und ihrem Willen, Zusammenhänge zu verstehen, nur so lange nützlich, wie man ihnen herausfordernde Aufgaben zuteilte. Büroarbeiten und das Schreiben von Berichten langweilten sie. Sie waren hinter feindlichen Linien am besten eingesetzt.
    Es gab die Abgebrühten, denen es allein ums Geld ging. Sie wollten Vorteile für sich herausschlagen, waren gegen ent sprechende Summen bereit, die Seite zu wechseln oder als

Weitere Kostenlose Bücher