Nachtauge
schlecht. Nach dem Aufstehen dachte ich, ich schaffe den Tag nicht, aber jetzt ist mir schon viel besser. Ich sollte zur Arbeit gehen.«
»Aber warum? Nun bist du einmal abgemeldet, genieße doch die freie Zeit!«
»Im Lager ist der Teufel los. Zwei Frauen sind geflohen, ich muss mich darum kümmern.«
»Das ergibt doch keinen Sinn! Ihr gebt ihnen Arbeit und ein Bett und täglich eine warme Mahlzeit. Ist das nicht mehr, als sie zu Hause haben? Warum büxen die in Deutschland aus? Undankbare Steppenweiber!«
»Sie haben in der Heimat ihre Familien, Eva. Und ich glaube nicht, dass sie dort am Hungertuch nagen.«
»Also gut. Kümmere dich um deine Ausreißer.« Sie kaute. »Hast du heute Abend schon was vor?«
»Ich bin noch angeschlagen. Es ist besser, wenn ich mich ausruhe.«
»Das sollst du ja auch! Was hältst du davon, wenn wir uns ein paar schöne Stunden machen? Dann denkst du nicht dauernd an deine Ostarbeiterinnen.«
Er zuckte innerlich zusammen. Ahnte sie etwas? Hatte Wiese sie eingeweiht? Aber das wagte der Blockwart nicht, er hatte immerhin noch das Foto als Druckmittel. »Wirklich, Eva, ich bin nach dem anstrengenden Arbeitstag nicht gesprächig. Es wäre keine Freude für dich.«
»Lass das meine Sorge sein.« Sie stand auf und kam herüber. Vertraulich legte sie ihm die Hand auf die Wange. »Bring du den Tag hinter dich, mein Lieber. Heute Abend wirst du dich gut erholen.« Sie drückte ihm einen Kuss auf den Kopf.
Er war so überrascht, dass er nicht protestierte. Sag ihr doch, dass längst Schluss ist, ermahnte er sich. Sag ihr, ein Rendezvous mit einer Verflossenen kommt für dich nicht infrage!
Während sie sich im Flur die Schuhe anzog, summte sie eine fröhliche Melodie. Sie sagte: »Bleib ruhig sitzen, ich bringe mich selbst nach draußen. Bis heute Abend! Um sieben warte ich auf dich im Café Grewe in der Friedrichstraße.«
»Ich …«
Sie schloss die Tür. Das machte sie mit Absicht, dass sie ihn nicht zu Wort kommen ließ, um ihr abzusagen. Eva wusste, er wollte sich nicht mit ihr treffen. Scheinbar hatte sie den Entschluss gefasst, ihn auch gegen seinen Willen in eine Bezie hung hineinzumanövrieren. Sie wollte ihn mit ihrer be stimmenden Zärtlichkeit dazu verführen. Irgendwann würde er nachgeben, das war wohl ihre Hoffnung.
Die Tür der Vorratskammer öffnete sich. Nadjeschka sah ihn entgeistert an. »Diese Frau, wer ist das?«
»Eine alte Bekannte.« Er sah den Schmerz in ihren Augen. Natürlich wusste sie, dass es um mehr ging als um eine bloße Bekanntschaft. »Das hat nichts zu bedeuten.«
»Sie sieht sehr schön aus«, sagte sie leise.
»Ist doch kein Vergehen.«
»Sie hat dich geküsst, Georg. Ich sollte besser verschwinden.« Sie verließ die Küche.
»Wo willst du hin?« Er folgte ihr in den Flur. »Versteh bitte, da ist nichts mehr. Es gab eine Zeit, in der ich Eva geliebt habe, aber das ist längst vorbei. Sie hat mich betrogen! Ich hab mich von ihr getrennt, schon vor Monaten.«
»Danach sah es ganz und gar nicht aus.«
»Sie will wieder zurück zu mir. Na und? Das wird nicht passieren.«
»Warum hast du dann gesagt, dass du noch an sie denkst? Warum hast du dich mit ihr verabredet?«
Da musste er lachen. »Deine Eifersucht ist herrlich. So viel bedeute ich dir! Ich danke dir, Nadjeschka.« Er fasste sie bei den Händen. »Du musst dir wirklich keine Sorgen machen. Mein Herz gehört nur dir! Verstehst du nicht? Eva ist das beste Alibi, das man sich denken kann! Wenn ich eine Freundin habe, offiziell zumindest – warum sollte ich dann eine Zwangsarbeiterin lieben?«
Sie runzelte die Stirn. »Das heißt, du hast sie angelogen.«
»Sie hat mich ja auch belogen, damals.«
»Du spielst mit ihr. Das ist herzlos.«
Er rollte die Augen. »Jetzt verteidige sie nicht noch! Es ist nur für ein paar Tage, bis ich uns falsche Pässe besorgt habe. Dann verlassen wir Neheim und tauchen in einer anderen Stadt unter, du und ich. Wir werden nie mehr getrennt sein.«
Weil zur Mittagszeit die wenigsten Leute auf der Straße waren, schien es am besten, wenn sie zwischen zwölf und ein Uhr zum Großvater gingen. Die Zeit bis dahin verbrachten sie im Gespräch über seine Bücher, und als es auf Mittag zuging und sie immer nervöser wurde, lenkte er sie ab, indem er ihr das Spiel »Schiffe versenken« beibrachte. Sie lachten viel. Was ihn verblüffte, war, dass Nadjeschka jedes Spiel gewann.
Er fragte sie nach ihrem Trick, und sie erklärte ihm nach anfänglicher
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