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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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Würde Kriminaldirektor Kreuter nicht am Ende lieber diesen Regelfanatiker befördern, der ihm bis aufs Blut ergeben war, statt ihm, Axel, den Weg zu bahnen, der noch eigenständig zu denken gelernt hatte? Eines Tages waren sie alle womöglich von der Gnade dieses ehemaligen Assistenzanwärters abhängig. Er sagte ver söhnlich: »Natürlich ist es gut, dass du die Rundschreiben beachtest und die genauen Anweisungen kennst.« Sein geheucheltes Lächeln widerte ihn selber an.

31
    Das Treppenhaus roch dumpf nach Bohnerwachs. Georg schloss die Haustür. Durch die Milchglasscheibe fiel Licht herein. Der Holzboden knarzte unter ihren Füßen. Er sagte: »Warte.«
    Nadjeschka blieb stehen. »Wir haben es geschafft, wir sind jetzt in Sicherheit, oder?«
    »Hör zu, mein Großvater …« Er zögerte. »Sag ihm nicht, woher wir uns kennen, ja?«
    »Würde er die Polizei rufen?«
    »Nein. Bring einfach nicht das Gespräch auf das Lager, das ist alles, worum ich dich bitte.«
    Sie biss sich auf die Lippe. »Du meinst, er wollte immer, dass du dir ein braves deutsches Mädel suchst, und jetzt kommst du mit einer Ukrainerin an, und das könnte er nicht verkraften? Wieso sind wir überhaupt hier, wenn er so denkt?«
    »So ist es nicht. Großvater hat nichts gegen andere Völker, im Gegenteil. Aber er versteht nicht, warum ich in der Schule gekündigt habe. Für ihn gäbe es keinen Grund der Welt dafür. Ich hab ihn angelogen, hab ihm gesagt, dass man mich nur übergangsweise ins Lager versetzt hat wegen einer personellen Notlage. Er denkt, ich bin im Hauptberuf immer noch Lehrer.«
    Sie seufzte. Mit ihrem kurzen roten Haar sah sie aus wie eine freche Göre aus der Großstadt. »Du solltest ihm die Wahrheit sagen. Er wird dich nicht verstoßen.«
    »Großvater ist bald achtzig. Da verkraftet man nichts mehr so leicht. Versprich mir, dass du ihn in seinem Glauben lässt.«
    Sie seufzte. »Wie du meinst. Es ist dein Opa, nicht meiner.«
    »Komm.« Eine halbe Ewigkeit war er nicht mehr hier gewesen. Seit er das Lager in den Möhnewiesen leitete, war er nur noch zu Großvaters Geburtstag hergekommen.
    Im ersten Stock neben der Wohnungstür der alten Trude hing immer noch das bekränzte Porträt Adolf Hitlers. Sie, die im Leben nie einen Mann für sich hatte begeistern können, betete den Führer an, fanatisch, mit glühendem Herzen. Er legte Nadjeschka die Hand auf die Schulter, führte den Finger zum Mund und sah warnend zur Tür der Trude hin. Sie verstand. Mit stillem Kopfschütteln stieg sie weiter die Treppe hinauf.
    An Großvaters Tür drehte er den Klingelknopf. Drinnen schellte es. Er trat ein, ohne auf Antwort zu warten, die Tür hatte eine gewöhnliche Klinke, früher war man wohl weniger darauf versessen gewesen, sich zu Hause einzuschließen. »Großvater, ich bin’s, Georg!« Gleich war seine Stimme heller, als erwachte beim Betreten dieser Wohnung wieder der kleine Junge in ihm.
    Es roch nach Urin, wofür Georg sich vor Nadjeschka schämte. Großvater ächzte beim Aufstehen aus dem Sessel im Wohnzimmer. Sein Gesicht war von Falten übersät wie der Hals einer Schildkröte, aber in den Augen blitzte noch der Schalk. »Soso«, sagte er, an Nadjeschka gewandt, »Sie sind das also. Sie haben mir Georgs Herz gestohlen.«
    Sie machte einen Klein-Mädchen-Knicks und lachte.
    Die beiden würden gut miteinander zurechtkommen.
    »Darf ich dir Nadjeschka vorstellen?«, sagte er.
    Großvater bot ihr seinen Sessel an, Georg den Wohnzimmerstuhl, und brachte für sich selbst einen Hocker aus der Küche.
    Georg hätte erwartet, dass Nadjeschka den Sessel aus Höflichkeit ablehnte, aber sie setzte sich auf den weichen Thron und ließ dem Großvater den Hocker. Der sagte fröhlich: »Nadjeschka, das klingt fremdländisch. Wo stammen Sie her?«
    »Aus der Ukraine.«
    »Wie wunderbar! Erzählen Sie mir von Ihrer Heimat!« Großvater wandte sich an ihn. »Weißt du, mit dieser Eva wäre das nie was geworden. Ich konnte es dir nicht sagen, du warst ja ganz verblendet. Gut, dass du’s noch eingesehen hast. Die hier, die gefällt mir. Die solltest du heiraten.«
    Nadjeschka errötete und senkte den Blick.
    »Das musst du schon uns überlassen«, sagte Georg schnell.
    Großvater holte sein Monokel heraus, das mit dem schwarzen Hornrand und dem Band daran, das so vollkommen aus der Mode gekommen war, und tat mit verschmitztem Lächeln, als würde er Nadjeschka begutachten.
    »Ich bin kein Insekt, das man durch eine Lupe betrachtet«,

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