Nachtauge
eine Königin. Er sah ihr zu, wie sie ruhig atmete.
Plötzlich blinzelte sie und schlug die Augen auf.
»Guten Morgen, Langschläferin«, sagte er. »Hast du den Kuchen gerochen?« Er hielt ihr den Streuselkuchen unter die Nase.
Sie schob den Kuchen beiseite, umfasste Georgs Nacken und zog ihn zu sich. Sie küsste ihn.
Sein Herz setzte einen Schlag aus. Dann begann es zu rasen. Er fühlte Nadjeschkas warme Lippen, spürte ihren Atem. Ihr weiches, zartes Gesicht an seinem, ihre Hand im Nacken, er wünschte, dass dieser Moment nie wieder aufhörte.
Sie lösten sich voneinander und sahen sich in die Augen. Ihre grünen Augen waren mit braunen Sprenkeln übersät, sie glänzten vor Glück. Der Blick ging ihm durch und durch. »Also kein Kuchen?«, sagte er.
Sie strahlte. »Geh schon mal in die Küche. Ich verschwinde kurz im Bad, dann komme ich nach.«
Der blaue Schlafanzug stand ihr wirklich gut, auch wenn die Ärmel viel zu lang für sie waren. Georg konnte den Blick nicht von ihr abwenden, er sah ihr nach, bis sich die Badezimmertür schloss.
In der Küche schaltete er das Radio ein und deckte den Tisch. Das Kuchenstück stellte er in die Mitte. Er schnitt einen Apfel in kleine Stücke und naschte vorab eines davon. Die Boskop waren süß. Im Radio spielten sie das Lied »Guten Tag liebes Glück«. Heute passte es, trotz des Krieges. Er füllte Wasser in einen Topf und hängte den Tauchsieder hinein. Aus der Vorratskammer holte er den Ersatzkaffee.
Die Türglocke ließ ihn zusammenfahren. Reglos stand er in der Vorratskammer, während seine Gedanken rasten. Man hat sie gesehen, dachte er. Das ist die Gestapo. Wegen der russischen Bücher, die Plöger gefunden hatte? Deutsche Arbeitsfront? Ich hätte mich nicht schon wieder krankmelden dürfen, sondern hätte heute ins Lager gehen müssen! Natürlich schöpfen sie Verdacht.
Nadjeschka kam in die Küche. Sie flüsterte: »Wer ist das? Was machen wir jetzt?«
»Schnell, geh da rein!« Er bugsierte sie in die Vorratskammer und schloss die Tür. Hastig nahm er den zweiten Teller vom Tisch, die Tasse, die Kuchengabel und das Messer und räumte die Sachen in den Schrank.
Er ging zur Tür, hustete einmal, um eine Erkältung vorzutäuschen, und öffnete.
Eva! Sie hatte ihr bestes Sommerkleid an, das weiße.
»So schlimm siehst du gar nicht aus«, sagte sie und lachte. Sie trat an ihm vorbei in die Wohnung, als wäre das selbstverständlich. »Ich wollte dich im Lager besuchen, da haben sie gesagt, du bist krank. Ein Rückfall, hab ich mir gedacht, die sind immer besonders schlimm.«
»Hör zu, ich bin gerade …«
»Beim Frühstück?«, sagte sie, während sie die Küche betrat. »Komm, da leiste ich dir Gesellschaft.«
Sie tat so, als hätte er sie nie weggeschickt, als hätten sie sich nie getrennt.
»In der Bahn hab ich gestern was erlebt, das glaubst du nicht! Das Abteil war voll, und eine Frau wollte trotzdem ihren riesigen Hut nicht absetzen. Sie hat auf ihre Freundin eingeredet wie ein Wasserfall. Man hatte gar keine andere Wahl, als zuzuhören. Und dann sagt sie, sie habe den Hut spottbillig für fünfhundert Mark gekauft. Spottbillig nennt sie das! Wir anderen konnten nur den Kopf schütteln. Vor dem Krieg wäre sie niemals mit dem Zug gefahren, die hätte sich im Auto chauffieren lassen, jede Wette.«
Wieso hing sie so an ihm? Er verstand es nicht. Evas Katzenaugen blickten scheu zu ihm herüber, auch wenn sie selbstbewusst tat, sie wartete darauf, dass er sie hinauswarf. Dabei konnte sie jeden haben, Neheims Männer lagen ihr zu Füßen. Warum er?
»Denkst du noch manchmal an mich?«, sagte sie.
Da war sie, die Frage, beiläufig eingestreut. Was nun? Er konnte unmöglich nein sagen, der Grund dafür, dass er überhaupt nicht mehr an sie dachte, war Nadjeschka. Frauen spürten so etwas. Eva durfte die Rivalin auf keinen Fall bemerken. »Natürlich«, sagte er.
Sie lächelte. »Sogar Kuchen hast du hier. Darf ich ihn mal probieren?«
Er brummte widerstrebend Zustimmung. Das war Nadjeschkas Kuchen! Was dachte die Arme, wenn sie durch den Spalt der Vorratskammer sah, wie eine fremde Frau ihm schöne Augen machte und den Kuchen wegaß, den er ihr gekauft hatte?
»Der ist vorzüglich«, schwärmte Eva und trennte mit der Gabel ein weiteres Stück ab, spießte es auf und schob es sich in den Mund. »Ich hab ewig keinen Streuselkuchen mehr gegessen.«
Die Sache lief aus dem Ruder. Er musste Eva loswerden. »Eigentlich geht’s mir gar nicht so
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