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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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Kuchen.« Er lächelte. »Folge mir.«
    Sie betraten die Küche, und er öffnete die schmale Seitentür zu einer Vorratskammer. Der Duft von Pfefferminztee und Schinken schlug ihr entgegen. Sofort reagierte der Magen mit einem lauten Knurren. Georg hatte alles hier: einen großen Spankorb voller Äpfel, Eingewecktes in Gläsern, sogar etwas Grünes im halbhohen Glas – war das eingekochter Spinat? Birnen konnte sie ausmachen in den Gläsern, Apfelkompott, Kürbis und Weintrauben. Ein halber Sack Kartoffeln stand da, sie sah eine Sardinenbüchse, Möhren, Kohlrabi, einen Kopf Wirsingkohl, Nüsse. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen. Jetzt erst bemerkte sie, wie er sie anschaute, sein Gesicht glühte regelrecht. »Wie ein Kind zu Weihnachten«, sagte er leise. »Du bist wunderschön, Nadjeschka.«
    Mit petroleumverschmierten kurzen Haaren?, dachte sie. Im zerrissenen Kittel?
    »Komm, ich mach dir erst mal Bratkartoffeln.« Er hievte den Sack Kartoffeln heraus.
    »Ich helfe dir.«
    Seite an Seite schälten sie Kartoffeln. Bald brutzelte es in der Pfanne und roch verführerisch. Sogar echte Butter gab er dazu. Er salzte die Kartoffeln und streute auch etwas Pfeffer darauf.
    Sie setzten sich zum Essen. Nadjeschka schloss die Augen beim Kauen, sie schmeckte jeder einzelnen Kartoffelscheibe nach. Die Kartoffeln knackten, wenn sie auf die angebratenen Seiten biss. Der Geschmack von Salz und Pfeffer und Butter heilte etwas in ihr, er gab ihr Heimat und Frieden.
    Zum Nachtisch strich ihr Georg ein Brot mit Melasse. So großzügig trug er den dunkelbraunen Zuckersirup auf, dass sich das Brot damit vollsog. Sie kaute genüsslich und leckte sich die Reste von den Lippen, um nichts von der Köstlichkeit zu verpassen.
    »Ich glaube, ich werde müde«, sagte sie. Eine schamlose Untertreibung. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie hier auf dem Stuhl einschlafen.
    Georg lachte. »Das ist ganz normal nach dem Essen. Außerdem hast du viel durchgemacht.«
    Er zeigte ihr das Bad. Es gab nur eine Zahnbürste, Georg wollte sie überreden, sie zu verwenden, aber das wollte sie nicht, sie spülte sich bloß den Mund etwas aus. Während sie sich über dem Waschbecken die Haare auswusch, bezog er ihr das Bett neu. Sie schloss die Badezimmertür und wusch sich mit duftender Seife die Arme, den Oberkörper, den Schambereich, die Beine. Es tat so gut, wieder sauber zu sein! »Welches Handtuch kann ich nehmen?«, rief sie durch die Tür nach draußen.
    »Ich lege dir eins hin«, antwortete er.
    Sie wartete kurz, dann öffnete sie die Tür einen Spalt, angelte sich das Handtuch und schloss sie wieder. Es musste recht neu sein, in der Ukraine waren die Handtücher seit Jahrzehnten in Gebrauch und schon dünn geworden, dieses hingegen war weich und besaß Fülle. Nadjeschka trocknete sich ab. Dann wickelte sie sich das Handtuch um den Körper und fragte, etwas beschämt, durch die Tür: »Hast du etwas zum Anziehen für mich?«
    »Liegt schon bereit.«
    Wieder griff sie durch den Spalt nach draußen. Er hatte ihr einen dunkelblauen Schlafanzug hingelegt. Sie zog ihn an. Er duftete nach sauberem Stoff und Waschmittel. Seine Ärmel hingen ihr bis weit über die Hände, und die Hose musste sie fünf Mal umkrempeln, um nicht daraufzutreten.
    Als sie in das Schlafzimmer trat, sah Georg sie lächelnd an. »Steht dir«, sagte er.
    »Wo schläfst du?«, fragte sie.
    »Drüben im Wohnzimmer.«
    »Danke, für alles.« Sie wollte ihn so gerne umarmen. Aber sie wagte es nicht.
    Er schaltete ihr die Nachttischlampe ein, das große Licht machte er aus. Er sagte Gute Nacht.
    Als sie allein war, stieg sie in das Bett. Noch nie hatte sie in einem so weichen Bett geschlafen, auch nicht daheim in der Ukraine. Kein Stroh knisterte. Es musste eine Federkernmatratze haben. Die Bettwäsche duftete nach Stärke, und das Kissen war so groß, dass es einen Kinderwagen ausfüllen würde. Sie ließ ihren Kopf darin einsinken. Der Gedanke, dass Georg in diesem Bett schlief, jede Nacht, weckte ein süßes Zittern in ihrem Bauch. Morgen würde sie ihn wiedersehen, und vielleicht von da an jeden Tag ihres Lebens.

30
    Mit diebischer Vorfreude tauschte Georg beim Bäcker 100 Gramm Mehl- und 20 Gramm Fettmarken gegen ein Stück Streuselkuchen ein. Er eilte damit nach Hause, schloss leise die Tür auf, in der Hoffnung, dass Nadjeschka noch schlief. Mit dem Kuchen auf einem kleinen Teller schlich er sich ins Schlafzimmer.
    Da lag sie in seinem Bett. Schutzlos wie ein Kind. Schön wie

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