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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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Weigerung schließlich ihre Strategie: Sie setze keine Schiffe an den Rand, da man dort nach dem ersten Treffer weniger Fehlmöglichkeiten habe. Außerdem suche sie seine Schiffe mittels Diagonalen, in die sie das Feld einteile, und ziehe das Raster anschließend immer enger, bis es ein Schachbrettmuster sei. Eigene Schiffe platziere sie weit auseinander, damit seine Schüsse, wenn er erst einmal eines getroffen habe, nicht gleich noch ein Nachbarschiff mittrafen.
    »So jung, und schon so klug! Dein Sinn für Strategien ist geradezu beängstigend.«
    Während Georg und Nadjeschka Kreuzchen auf dem Papier machten, feuerte das deutsche U-Boot U 89 nordöstlich der Azoren ein Torpedo auf den griechischen Dampfer Laconikos und versenkte ihn mitsamt der fünftausendzweihundert Tonnen Manganerz, die er nach Schottland bringen sollte. Dreiundzwanzig Seeleute starben. Gleichzeitig sank im Nordatlantik U 209 und zog sechsundvierzig Menschen mit in den Tod.
    »Krall dich nicht so an meinen Arm«, sagte er, als sie wenig später aus dem Haus traten. »Wir machen einen Spaziergang an einem schönen, warmen Maitag. Kein Grund, sich so ängstlich umzusehen.«
    Zu Großvater würden sie eine knappe halbe Stunde brauchen. Georg wählte kleinere Straßen, um möglichst niemandem zu begegnen. Einmal kreuzten Schulkinder ihren Weg, das Schwämmchen baumelte vom Schulranzen herunter, noch nass vom Gebrauch im Klassenzimmer, wo sie ihre Schiefertäfelchen damit abgewischt hatten. Zwei ältere Kinder, die ihnen folgten, trugen den Ranzen nicht mehr auf dem Rücken, sondern wie eine Aktentasche. Sie hatten die Riemen vom Ranzen abgetrennt, ein wichtiges Signal an alle, dass sie jetzt zu den Größeren gehörten mit vierzehn Jahren.
    Als sie die Schüngelstraße überquerten, sah er vor der Schuhmacherwerkstatt Axel und seinen Gestapogehilfen stehen. Er wandte sich sofort ab, in der Hoffnung, nicht bemerkt worden zu sein, und schlüpfte mit Nadjeschka in den Barthold-Cloer-Weg.
    »Die schleichen sich hier überall mit Tauschwaren rein«, zischte Hans. »Der Tauschhandel ist doch streng verboten!«
    »Ist nicht unsere Baustelle.« Axel überlegte, ob er gerade richtig gesehen hatte. Georg mit einer hübschen Frau mit kurzem rotem Haar im Arm? Wer war das gewesen? Schon wieder eine Zwangsarbeiterin? Er machte kehrt. Nicht, dass Hans noch auf die Idee kam, die Papiere der Frau zu prüfen oder so was. Innerlich aber kochte er. Der Schwager wurde allmählich untragbar. Und dann noch die Sache mit den Büchern, von der Plöger ihm berichtet hatte. Er musste verschwinden, aber möglichst ohne Skandal, sonst jammerte ihm Anneliese die Ohren voll. Am besten sorgte er dafür, dass Georg nun doch einen Einberufungsbescheid bekam. Die SS zog bereits Siebzehnjährige ein. Da war es selbstverständlich, dass ein Mann im besten Alter ebenfalls seinen Dienst an der Front ableistete.
    Hans blieb vor einer Schaufensterscheibe stehen. »Der Zettel missachtet den Befehl Adolf Hitlers.«
    Gereizt las Axel: SOLDATENWITWE ÜBERLÄßT GEGEN BEZAHLUNG GEBRAUCHTE HERRENSCHUHE, TELEFON 2708. »Was ist daran verkehrt?«, fragte er.
    Hans dozierte: »Der Führer persönlich hat angeordnet, dass das Eszett bei der Verwendung großer Buchstaben als SS geschrieben werden soll.«
    »Ach so, der Führer persönlich? Und er hat es dir gesagt?«
    »Reden Sie nicht so über unseren großen Feldherrn! Er hat es mir natürlich nicht gesagt. Der Befehl stand in einem offiziellen Rundschreiben des Reichsministers des Inneren, lesen Sie Ihre Post nicht?«
    Speichellecker wie dieser Jungspund waren es, die das Leben im Großdeutschen Reich von Jahr zu Jahr komplizierter gestalteten, weil man ständig gegen irgendeine Regel verstieß. »Wenn du so weitermachst, legen wir bei der Gestapo bald noch Karteikarten über Frauen an, die es gewagt haben, in Männerhosen rumzulaufen. Als hätten wir nichts Besseres zu tun! Ob die Soldatenwitwe ein Eszett schreibt oder ein SS , ist mir herzlich egal.«
    Hans schwieg, während sie zum Ehmsenplatz gingen. Das Schweigen hatte sich in den letzten Tagen verändert, der Assistentenanwärter schwieg nicht mehr reumütig oder gar unterwürfig, nein, er schwieg beharrlich, mit Kraft. Axel meinte sogar, ein wenig Tücke in Hans’ Schweigen zu verspüren. Als würde der sich Notizen machen über die aufrührerischen Bemerkungen, die er von sich gab, um ihn mit der Sammlung dieser Vergehen eines Tages zu stürzen.
    Allmählich bekam er Angst vor Hans.

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