Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
Vom Netzwerk:
entrüstete sie sich. Ihre grünen Augen lachten dazu. »Sie waren Lehrer, hab ich gehört?«
    Er nahm das Einglas herunter. »Genau wie Georg. Nur dass ich Biologie unterrichtet habe. Hübsche Käfer zu beobachten gehörte jeden Sommer dazu.«
    Nadjeschka bückte sich. »Und Sie können Strümpfe stopfen.« Sie hob den Stopfpilz vom Boden auf.
    »Mir bleibt ja nichts anderes übrig. Gerlinde ist vor bald zwanzig Jahren gestorben.«
    An diesem Fenster hatten Opa und er abends gestanden und dem Sonnenuntergang zugeschaut, als er noch ein Kind gewesen war. Im Winter war es regelmäßig mit Eis zugefroren, dann glänzte die Sonne durch die weißen Blumen, und wenn er bei Großvater übernachtete, musste er die Nase unter das Federbett stecken, um nicht zu frieren.
    Immer noch hing neben der Tür die Lichtschnur. Statt einen Schalter zu drehen, zog man wie in alten Fürstenschlössern an der Schnur, um das Licht an- oder auszuschalten. So hatte Großvater immer gelebt, warum sollte er sich jetzt eine neue Elektrik einbauen lassen, nur um modern zu sein?
    Die Wohnung war mickrig, sie bestand nur aus der Küche, dem Wohnzimmer und einer kleinen Kammer mit Bett. Während Großvater von seiner Zeit als Lehrer erzählte, von den dressierten Fischen, den Bienenvölkern und der Reise nach Deutsch-Ostafrika, dachte Georg darüber nach, wie er ihn fragen konnte, ob er bereit sei, Nadjeschka für ein paar Tage bei sich aufzunehmen.
    Irgendwann sah ihn der Großvater an und sagte: »Was hast du auf dem Herzen, Georg? Irgendetwas beschäftigt dich.«
    Er fühlte sich längst noch nicht bereit, die entscheidende Frage zu stellen. »Du kannst dir sicher vorstellen, dass es …« Er suchte nach dem richtigen Wort. »Dass es zurzeit unbeliebt ist, mit einer Ukrainerin auszugehen. Niemand darf davon wissen, sonst werden wir wegen Blutschande vor Gericht gebracht.«
    »Ich zeige euch bestimmt nicht an.«
    »Würdest du sie bei dir aufnehmen? Für ein paar Tage vielleicht?«
    Großvater sah zu Nadjeschka hinüber. »Ich hab mir schon immer eine Enkelin gewünscht. Und wenn sie hier ist, kommst du wenigstens öfter vorbei. Etwas Besseres kann mir gar nicht passieren.«
    Die Amseln zwitscherten. Überall in den Häusern deckten die Familien den Tisch fürs Abendbrot. Nur er, Ulrich Wiese, musste seine abendliche Runde durchs Revier machen. Allein. Er wusste genau, dass sie ihn alle hassten. Zur Belohnung für seine treuen Dienste hatte er vor drei Tagen von der Partei eine Trainingsjacke erhalten mit modernem Reißverschluss und aus wunderbar glattem Stoff, doch er zog sie jedes Mal aus, sobald er die Wohnung verließ, weil er genau wusste, die Leute würden denken, er habe jemanden ans Messer geliefert für dieses Blutgeschenk. Sie trauten ihm nur das Böseste zu. Niemand sah seinen aufopfernden Dienst an der Gesellschaft.
    Er trat an ein Fensterbrett heran, auf dem eine gescheckte Katze in der Abendsonne schlief. Jetzt dachten sie bestimmt, er wollte den Leuten im Erdgeschoss in die Wohnung gucken, aber das stimmte gar nicht, er wollte bloß die Katze streicheln. Als er die Hand nach ihr ausstreckte, sprang sie vom Fensterbrett und lief davon.
    Enttäuscht ging er weiter. Die anderen machten sich’s leicht. Sie bildeten sich ein, dass sie sich nicht die Hände schmutzig machten. Für den Führerstaat taten sie das Nötigste, meckerten hinter vorgehaltener Hand, wenn sich die Auswirkungen des Krieges an irgendeinem Missstand auch mal in ihrem kleinen Leben zeigten, und holten für sich heraus, was nur ging. Einer wie er, der sich mit Haut und Haar einsetzte, wurde gemieden.
    Er hasste es, wenn sich jemand für etwas Besseres hielt. Meist machten diese Leute andere nieder, um sich aufzuwerten. Schon im Ersten Weltkrieg, vor bald dreißig Jahren, hatte er diese Lektion gelernt. Als Offiziersbursche war er wie ein Tier behandelt worden. Mit Abscheu dachte er an jene Zeit zurück. Vor der Weckzeit den Bunkerofen beheizen, bitte leise allerdings, damit der Herr Offizier noch schlafen kann! Dann die Stiefel des Herrn Offiziers putzen und mit einem Wolllappen nachreiben, damit sie schön glänzen. Die Sporen mit Sand polieren. Hose und Rock sorgfältig ausbürsten – auch die Hosentaschen auskehren! – und bereitlegen. Heißes Wasser zum Rasieren bereitstellen, Rasier- und Waschzeug für den Offizier auspacken, anschließend die Verdunkelung entfernen und den Offizier pünktlich wecken. Sobald der Offizier zum Frühstück geht, den Bunker

Weitere Kostenlose Bücher