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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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hatte, und beobachtete, wie Georg etwa fünfzig Meter entfernt die Haustür aufschloss.
    Zehn Minuten sollte sie warten. Sie blickte zu den Sternen auf. Daheim sahen sie jetzt dieselben Sterne. Ob sie an sie dachten? Hoffentlich ging es den Eltern gut, der Oma und den Brüdern, hoffentlich war keiner gefallen oder verhaftet worden.
    Noch acht Minuten. Ein Fenster wurde geöffnet, schräg über ihr. Sie presste sich gegen die Hauswand, um nicht gesehen zu werden. Oben glühte eine Zigarettenspitze, jemand rauchte. Sie war der Feind, sie hatte sich in diese deutsche Stadt geschlichen ohne das Recht, zu atmen und zu leben und gesehen zu werden. Man wollte sie totschlagen. Nur einem musste sie auffallen, dann würde die Treibjagd beginnen. End lich schloss sich das Fenster wieder. Sie atmete zitternd aus.
    Ein Blick auf die Uhr. Noch vier Minuten. Eine gefleckte Katze tappte lautlos über die Straße und kroch unter ein Gebüsch.
    Nach wie vor vier Minuten. Warum verging die Zeit nicht? Sie starrte nervös auf die Uhr, sah dem Sekundenzeiger zu, wie er gemächlich seine Runde beendete.
    Stimmen näherten sich vom anderen Ende der Straße, Schritte. Zwei Männer bogen um die Ecke. Sie trugen Uniform, schwarze Stiefel, Dienstmütze. Gummiknüppel baumelten an ihren Gürteln.
    Nadjeschka löste sich von der Mauer. Klopfenden Herzens ging sie auf Georgs Haus zu. Sie wartete auf den Befehl der Polizisten, auf das »Halt! Bleiben Sie stehen«. Ihre Ohren schmerzten vor grausiger Erwartung. Verfolgte man sie, dann durfte sie nicht in das Haus gehen, sie musste vorbeirennen, um Georg zu retten.
    Die Männer plauderten weiter, und Nadjeschka schlüpfte in den Hauseingang. Georg hatte wie besprochen die Tür mit einem Holzkeil festgeklemmt, damit sie nicht klingeln musste und damit womöglich die Nachbarn erst auf sich aufmerksam machte. Sie entfernte hastig den Keil und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.
    Eigentlich war vereinbart gewesen, dass sie im Treppenhaus kein Licht machte. Aber das würde bei den Polizisten Verdacht erregen. Sie schaltete das Licht ein und ging die Treppe hinauf. Wartete darauf, dass unten wütend gegen die Tür geklopft wurde.
    Wie er es ihr beschrieben hatte, war im zweiten Stock seine Wohnungstür angelehnt. Sie trat ein und schloss sie.
    Georg kam in den Flur. »Du solltest doch kein Licht machen«, sagte er.
    »Da waren Polizisten. Die hätten sich gewundert, wenn ich im dunklen Treppenhaus nach oben gegangen wäre.«
    Er riss die Augen auf. »Sind sie hier im Haus?«
    »Nein, draußen. Sie sind vorbeigegangen, glaub ich.«
    Er verschwand in einem Zimmer. Nach einer Weile kam er zurück. »Sie sind weg.« Er lächelte gezwungen. »Willkommen bei mir zu Hause.«
    Immer noch schlug ihr Herz ruhelos. »Glaubst du nicht, dass sie hier nach mir suchen werden?«
    »Eine entflohene Zwangsarbeiterin, in der Wohnung des Lagerleiters? Nein.«
    »Jemand könnte uns gesehen haben. In der Stadt, am Ostersonntag, als wir spazieren waren.«
    »Du meinst Paulheinz Schmauser, meinen Lehrerkollegen? Der hat das längst wieder vergessen. Gefährlich könnte Ulrich Wiese werden, der Blockwart. Zum Glück habe ich ihn durch ein kompromittierendes Foto in der Hand.«
    »Hast du Freunde oder Verwandte, denen wir vertrauen können?«
    Er lachte bitter auf. »Der Mann meiner Schwester arbeitet bei der Gestapo, bei dem können wir dich unmöglich verstecken.« Dann nickte er nachdenklich. »Hast schon recht, es ist besser, wenn du nicht hier bist. Ich bringe dich zu meinem Großvater. Allerdings nicht mehr diese Nacht, in den leeren Straßen fallen wir bloß auf und laufen der Polizei in die Hände.«
    Einen Moment war es still, sie wussten nichts miteinander anzufangen. Das müssen wir erst noch lernen, dachte sie: Beide sind wir jetzt private Menschen, nicht mehr Lagerführer und Zwangsarbeiterin. Die Flucht verbindet uns auf Leben und Tod miteinander, andere haben Monate Zeit dafür, sich anzunähern, bei uns gibt es das nicht, wir müssen einander jetzt schon völlig vertrauen und wissen doch so wenig voneinander. »Hier lebst du«, sagte sie leise. Georg musste ein ordnungsliebender Mensch sein, so, wie die Schuhe akkurat im Schuhregal stan den, die Schlüssel am Haken und die Jacken auf Bügeln hingen. Die Wohnung war sauber. Es fehlte ein wenig Wärme, eine Pflanze oder ein schönes Bild an der Wand.
    »Hast du Hunger?«, fragte er.
    »Ich war zum letzten Mal in der Ukraine satt.«
    »Und nach meinem

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