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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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verneinte.
    Er stellte weitere Fragen. Um sicherzugehen, dass ihre Beobachtung richtig war, folgte sie eine Weile den Themen, die er anschnitt, und sagte dann plötzlich: »Was ist da los am Eyebrook-Stausee?«
    Diesmal legte er die rechte Hand mit gespreizten Fingern auf das Bein, es sollte entspannt wirken, aber das tat es nicht. »Genau das möchte ich von Ihnen wissen. Sie waren also doch dort?«
    »Bisher nicht, nein. Mich wundert nur, dass Sie danach fragen. Ist das nicht ein Landschaftsschutzgebiet?« Sie war so furchtbar müde. Ihre Worte hörten sich gelallt an, und die Augen brannten. Der Kopf schmerzte fürchterlich. Seit Tagen ließ man sie nicht schlafen. Wieder und wieder verhörte er sie, dann einer seiner Kollegen, dann erneut er, Knowlden.
    »Ich warne Sie! Entweder Sie kooperieren, oder wir greifen zu den harten Mitteln.« Er sah auf die Uhr. »Ich habe jetzt einen Termin. Das ist Ihre letzte Frist. Wenn ich wieder komme, reden Sie, oder es wird schmerzhaft für Sie werden.« An der Tür drehte er sich um. »Ich meine es ernst, Nachtauge. Ich habe Ihre Spielchen satt. Ihre Zeit läuft ab, und der letzte Gong wird Ihnen mächtig in den Ohren gellen, ich versprech’s.«
    Die konnten alles mit ihr anstellen. Fingernägel ausreißen. Gelenke zertrümmern. Niemand würde nach ihr fragen. Man warf ihren zerschundenen Körper in irgendein Loch und verscharrte sie. Bisher waren Knowlden und seine Kollegen zivilisiert mit ihr umgegangen, abgesehen von einigen Schlägen ins Gesicht und dem Schlafentzug und den ständigen Verhören. Warum zog er gerade jetzt die Zügel straff? Das musste eine Bedeutung haben. Stand der geheimnisvolle Einsatz kurz bevor, und sie mussten sichergehen, dass sie ihre deutschen Vorgesetzten nicht gewarnt hatte?
    Die Soldaten brachten sie zurück in die Zelle. Auf dem Weg durch den Flur dachte sie nach. Eigentlich hatte sie vorgehabt, Scampton erst zu verlassen, wenn sie wusste, was die Briten mit dem geheimnisvollen Geschwader planten. Nun würde sie in der nächsten Stunde aus der Zelle ausbrechen müssen. Der Abend dämmerte bereits, das konnte ihr helfen.
    Man stieß sie in die Zelle und verriegelte die Tür hinter ihr. Welche Bedeutung hatte der Eyebrook-Stausee für die geheime Operation? War es dieser See gewesen auf den Luftaufnahmen, die sie vor ihrer Festnahme mit der Minox abfotografiert hatte? Sicher nicht. Die Luftaufklärer überflogen das Deutsche Reich. Was wollten die Briten dort mit einem See?
    U-Boote konnten in Flussmündungen hineinfahren, aber bis zu den Seen kamen sie nicht durch, dafür wurde das Wasser irgendwann zu flach. Und die umgebauten Bomber? Welchen Sinn hatte es, einen See zu bombardieren?
    Sie streckte ihre Hände aus. Die Finger zitterten wegen des Schlafmangels. Zeit zu gehen. Auch wenn es bedeutete, die Mission erfolglos abzubrechen.
    Sie schlüpfte aus dem rechten Schuh, schob die Fingernägel unter die Kante des Absatzes und zog die Nägel heraus. Vorsichtig öffnete sie die geheime Klappe und schüttete den Inhalt des Hohlraums auf das Bett. Der winzige Kompass war offenbar unversehrt. Sie hob ihn kurz in die Höhe, um zu sehen, ob die Nadel sich ausrichtete. Dann entfaltete sie die Landkarte aus Seide, bis das halbe Bett bedeckt war, und plante eine Fluchtroute. Sie prägte sich die Ortsnamen ein, die Lage der Flüsse, die sie zu überqueren hatte. Sie faltete die Karte wieder zusammen und stopfte sie in den Hohlraum im Schuh.
    Das kleine Tütchen, das neben dem Kompass lag, riss sie auf und schüttete sich den Kohlenstaub auf die Handflächen. Sie spuckte darauf und vermischte den Speichel mit dem schwarzen Pulver. Sorgfältig schmierte sie sich das Schwarz auf die Stirn, die Nase, die Wangen. Den Rest verrieb sie über den Handrücken.
    Den Schnürsenkel aus dem Schuh zu ziehen kostete einige Mühe – er saß sehr fest, sie musste ihn Stück für Stück herausfädeln. Als sie ihn draußen hatte, streifte sie die Stoffhülle des Senkels ab und befreite die Drahtsäge. Sie stellte sich auf das Bett, zog die Gigli-Säge um die mittlere Eisenstange im Fenster und fädelte ihre Finger in die Schlaufen. Sie begann zu sägen.
    Der widerstandsfähige Draht arbeitete sich unendlich lang sam in das Eisen. Nachtauge zwang sich, nicht ständig danach zu tasten, wie tief die Kerbe war. Glücklicherweise war sie eine schlanke Frau, eine der Stangen herauszunehmen würde genügen.
    Draußen gingen Piloten vorüber. Sie duckte sich. Einer sagte: »Ich

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