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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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sah man keine Anzeichen von Angst bei ihr? Rechnete sie damit, dass ihr Partner sie zu befreien versuchte?
    Die sonore Stimme von Bomberchef Harris füllte den Raum. »Die Fabriken in der Region werden mit Schiffen über die Ruhr beliefert. Öffnen wir die Möhnetalsperre, wird durch die Überflutungen der Schiffsverkehr erheblich gestört. Auch über Weser und Mittellandkanal, wo die Deutschen ebenfalls Kriegsmaterial transportieren. Diesen Weg schneiden wir ihnen ab. Zudem wird es Schäden am Schienensystem geben. Eine wichtige deutsche Eisenbahnlinie läuft parallel zu Möhne und Ruhr und kreuzt sie immer wieder. Die Flutwelle wird sich in den engen Tälern meterhoch aufstauen, die Brücken niederreißen und die Schienen überfluten. Und weil das Deutsche Reich unter Benzinmangel leidet, können sie die kohlebetrie benen Eisenbahnen nicht durch Lastkraftwagen ersetzen. Und zu guter Letzt ist das Ruhrgebiet dicht besiedelt und auf das Trinkwasser aus den Talsperren angewiesen. Durch den Angriff wird es zu Ausfällen kommen, die in der Bevölkerung Panik auslösen dürften. Vier bis fünf Millionen Menschen werden ohne Trinkwasser sein.«
    Die Gesichter der Piloten leuchteten. Sie sahen plötzlich, dass sie den Krieg entscheidend beeinflussen konnten, dass sie persönlich einen Wandel herbeiführen würden im Weltgeschehen.
    Harris sagte: »Der Angriffsbefehl vom Generalstab wurde erteilt. Wir haben ein enges Zeitfenster, die Vollmondphase endet bald, und wir brauchen gute Sicht für den Angriff. Die erforderliche Wasserstauhöhe in den Talsperren ist erreicht. Jetzt darf nichts mehr schiefgehen. Ich sage euch, das wird kein Kinderspiel. Nicht alle von euch werden heimkehren. Die Lancaster ist eine schwere Maschine, und wir muten ihr eine große Bombenladung zu. Mit diesem schweren Baby müsst ihr es im Tiefflug hinter das Ruhrgebiet schaffen, und ihr wisst, wie stark es verteidigt ist. Was ihr morgen Nacht tut, ist ein Meisterstück. Also bereitet euch gut vor. Cochrane übernimmt und erklärt euch die aktuellen Luftbilder und die beiden geplanten Einflugrouten.«
    Er durfte Nachtauge nicht unterschätzen. »Ist das nicht ein Landschaftsschutzgebiet?«, hatte sie gefragt und dabei spöttisch die Mundwinkel herabgezogen. Sie fühlte sich offensichtlich überlegen. Woher rührte diese Selbstsicherheit? War einer der Soldaten bestochen, hatte sie Komplizen in Scampton?
    Tar Robertson, der Chef der Abteilung B1A für Doppelagenten, hatte kürzlich behauptet, sämtliche deutschen Agenten in England seien inzwischen entweder unschädlich gemacht oder umgedreht. Natürlich wusste jeder, dass das nicht stimmte. Genau diese Überheblichkeit ließ sie Fehler machen.
    In den letzten vierundzwanzig Stunden vor dem Einsatz durfte er nichts dem Zufall überlassen. »Bitte entschuldigen Sie mich«, sagte er, und verließ den Raum. Er durchquerte eilig den Flur und trat aus dem Gebäude. Draußen dämmerte es bereits, über den Häusern des Dorfs leuchtete ein glutrotes Wolkenband.
    Das Heck einer Lancaster wurde von einem Kran in die Höhe gehoben, etliche Männer packten mit an, um den Rumpf des Bombers zu dirigieren. Ein Bombentieflader fuhr eine gewaltige eiserne Tonne unter das Flugzeug. Mit Winden und Drahtseilen zog man sie zwischen die Haltevorrichtungen unter den Flügeln. Bald sah es aus, als hielte das Flugzeug den Vorderteil einer Dampfwalze in seinen Klauen.
    Auch die anderen Lancasters wurden von Technikern umschwärmt. Jugendliche Hilfskräfte vom Air Training Corps verluden Leuchtspurmunition für die Bordgeschütze. Aus den Werkstätten hallten Hammerschläge herüber.
    Eric wies die beiden wachhabenden Soldaten an, ihm zu folgen, sich aber aus dem Sichtfeld der Tür herauszuhalten. »Ich möchte nicht, dass die Agentin euch sieht.« Es war genug Gesichtsverlust, dass er nach dem Rechten schaute. Sie sollte nicht glauben, er habe Angst vor ihr.
    Ein breitschultriger Kerl händigte ihm den Schlüssel aus. Eric nahm sich vor, die Wachen zu verdoppeln. Vier Männer zu bestechen war erheblich schwieriger, als zwei Leute auf seine Seite zu ziehen. Er schloss die Tür der Zelle auf und öffnete sie. Nachtauge stand mit dem Gesicht zum Fenster da. Warum hielt sie ihm den Rücken zugedreht?
    Er tastete nach der Smith & Wesson, ohne den Blick von ihr zu nehmen. Als er den Lederverschluss des Halfters öffnete, fuhr die Agentin plötzlich herum. Ihr Gesicht war schwarz, es erschreckte ihn. Er riss den Revolver heraus, doch

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