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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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sagte: »Ich habe mich verliebt.«
    Für einen Moment glaubte Ulrich Wiese, an die falsche Tür geklopft zu haben. Dieses winzige Büro war der lange Arm des Rassenpolitischen Amtes hier in der Region? Nicht einmal ein Fenster hatte es! Stuhl und Schreibtisch wirkten wie hineingequetscht. Nur Evas Schönheit strahlte inmitten des schäbigen Raums wie die einer Königin. Sie sah aus, als sei der Montagmorgen um acht Uhr dreißig ihre liebste Zeit der Woche. Er machte sich nichts aus Frauen, aber er verstand, weshalb ihr die Männer Neheims nachsetzten.
    »Wie kann ich Ihnen helfen«, fragte sie, »Herr …?«
    »Wiese. Ulrich Wiese.« Hundertmal waren sie sich in Neheim auf der Straße begegnet. Tat sie nur so, oder kannte sie ihn wirklich nicht? Es enttäuschte ihn. Er riss sich zusammen und sagte: »Ich schätze sehr, was Sie hier machen. Ein Bauer muss seinen Acker hüten, er muss ihn ordnen, sonst nimmt das Unkraut überhand und verdrängt das Getreide. Genauso müssen wir die Unterwanderung und Verdrängung des deutschen Erbguts verhindern. Es genügt nicht, geburtenstark zu sein, wir müssen auch die Erbkranken und Fremdvölkischen aus unserer Mitte ausmerzen. Dafür treten Sie doch ein?«
    »Ganz richtig. Und was kann ich für Sie tun?«
    »Der große Nietzsche hat das alles schon vorhergesehen«, sagte er. Dieses Nietzsche-Zitat kam immer gut an. »Der Übermensch muss rücksichtslos sein, eine prachtvolle Bestie, die es nach Beute und Sieg gelüstet. Deshalb gewinnen wir Arier den Krieg und werden die neue Herrenrasse sein.«
    »Hören Sie, Herr … äh … Wiese, wenn Sie sich für das Vortragsprogramm bewerben wollen, wir haben leider schon genügend Redner.« Sie lächelte kühl und abweisend.
    Er dachte: Deine Arroganz wird dir gleich vergehen. Laut sagte er: »Die vielen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, Sie wissen ja sicher, dass es da Kontakte zur deutschen Bevölkerung gibt. Ein großes Problem. Jemand, den Sie ken nen, Georg Hartmann, macht sich regelmäßig eine Ukrainerin gefügig. Er kauft ihr Kleider, geht mit ihr ins Kino und treibt mit ihr Rassenschande.«
    Sie stand auf. »Sie lügen.«
    So schnell war sie dahin, ihre Überlegenheit. Er feixte innerlich. Nun musste er ihre Wut nur noch wie einen Feuer strahl auf Georg Hartmann lenken. »Leider ist es die Wahrheit. Ich kann alles belegen.«
    »So ein Mensch ist er nicht.«
    »Ich habe mir schon gedacht, dass die Geschichte Sie kränken wird. Ist es nicht abscheulich? Wissen Sie, ich selbst kann ihn nicht anzeigen, besser wäre es, wenn Sie das tun würden. Wir können nicht hinnehmen, dass er weiter so rumhurt. Wir arbeiten zusammen, ja? Ich liefere Ihnen die Beweise, und Sie gehen zur Gestapo. Gemeinsam bringen wir den Kerl dahin, wo er hingehört.«
    »Das ist nicht Sache meines Amtes«, sagte sie. »Gehen Sie bitte.«
    »Wie?« Er stutzte. Sie war sichtlich erschüttert von der Nachricht. Warum weigerte sie sich, dem Hurenbock das Handwerk zu legen? »Sie sind doch für die Bewahrung des deutschen Blutes und Erbguts zuständig! Wir müssen etwas unternehmen. Sonst wächst uns in Neheim ein Geschlecht von Mischlingen und Bastarden heran!«
    Ihre Lippen bebten. »Ich will Ihnen eins sagen: Wenn wir nur ein paar mehr Männer hätten wie Georg, dann würde es besser aussehen für unser Land. Mag sein, dass er gerade einen Fehler gemacht hat. Aber er hat Herz und Verstand. Sie sollten sich schämen, dass sie ihn verleumden.«

33
    Lügen war schwieriger, als viele glaubten. Vor allem, wenn man jemandem gegenübersaß, der den menschlichen Körper zu lesen wusste. Nicht nur ich muss lügen, dachte Nachtauge, auch Eric Knowlden hat Wissen, das er zu verbergen versucht. Mit jeder Frage, die er mir stellt, verrät er etwas. Außerdem kann ich Schlüsse daraus ziehen, wie er auf das, was ich ihm antworte, reagiert. Ich muss mich bloß konzentrieren und die Augen offen halten.
    Das Gesicht hatten Erwachsene für gewöhnlich im Griff, irgendwann im Kindesalter lernte man, bei einer Lüge seine Mimik zu bezähmen. Das arglose Gesicht, die falsche Freundlichkeit, das geheuchelte Lob – darin war jeder geübt.
    Was kaum einer beachtete, waren die Signale, die Hände und Füße aussandten. Da, gerade jetzt, als Eric Knowlden sie fragte, ob sie am Eyebrook-Stausee gewesen sei, tippte er mit dem Fuß gegen das Stuhlbein, eine kurze Bewegung nur, aber deutlich sichtbar. Die Frage spannte ihn an, diese eine Frage unter Hunderten war wichtig.
    Nachtauge

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