Nachtauge

weiß nicht, sie ist mir direkt wieder hochgesprungen und hat mir den Rumpf zertrümmert. Kann von Glück reden, dass ich noch landen konnte. Ich bin einfach zu niedrig geflogen.«
    Nachtauge stutzte. Wenn etwas wieder hochsprang, dann musste es zuvor herabgefallen sein. Meinte er die Bombe? Bauten die Briten eine springende Bombe?
    Vielleicht brauchte man dafür das Wasser? Konnte eine Bombe wie ein flacher Stein über die Seeoberfläche springen? Aber das ergab keinen Sinn. Warum warf man die Bombe nicht direkt auf ihr Ziel, sondern ließ sie dorthin springen?
    Sie arbeitete weiter. Bald schmerzten die Finger vom Sägen. Bunte Farbflecken erschienen vor ihren Augen, eine Folge des Schlafentzugs. In ihren Ohren rauschte es.
    Eine Bombe springen zu lassen war nur dann vernünftig, wenn sie etwas überwinden sollte, eine Mauer, ein Hindernis. Der Eyebrook-Stausee … Sie erstarrte. Stauseen besaßen eine Mauer. Und man schützte im Krieg die Talsperren mit Torpedonetzen. Eine springende Bombe würde über die Netze hinweghüpfen und gegen die Mauer krachen.
    Plötzlich passte alles zusammen: Die Luftbilder auf dem Schreibtisch des Offiziers. Eric Knowldens Frage nach dem Eyebrook-Landschaftsschutzgebiet. Die Flugzeuge, denen man den mittleren Geschützturm entfernt hatte, damit sie eine schwerere Bombenlast tragen konnten. Die Bemerkung des Piloten.
    Sie ließ die Säge los. Eine Gänsehaut überzog ihre Arme und den Rücken. Die wichtigsten Talsperren befanden sich im Ruhrgebiet, der Waffenkammer des Großdeutschen Reichs. Wenn es den Briten gelang, sie zu zerstören, war das eine Katastrophe mit Folgen für den Kriegsverlauf.
    Eric fühlte sich fremd unter den vielen Piloten. Das dichte Gedränge erinnerte ihn auf ungute Weise an das Unglück im Luftschutzbunker von Bethnal Green Station. Warum hatte ihn Air Chief Marshal Harris zur Einsatzbesprechung eingeladen? Er hatte hier nichts verloren.
    Seine Gedanken waren ganz bei Nachtauge. Das selbstsichere Verhalten der Agentin irritierte ihn. Von ihrem Partner hatten sie keine Spur gefunden, und sie hatten auch keine Funksprüche aufgefangen. Entweder, sie hatte den Partner erfunden, um für sich Zeit zu gewinnen. Oder der Partner existierte wirklich, Nachtauge und er hatten aber nicht genug über Operation Chastise herausgefunden, und versuchten nach wie vor, Informationen zu erlangen. Ihr neugieriges Nachfragen heute im Verhör würde dazu passen.
    Gegen die erste Variante sprach außerdem die Kaltblütigkeit der Agentin. Ihr musste klar sein, dass man sie wegen Spionage hinrichten würde. Wenn sie aber nur von dem Wunsch getrieben würde, länger zu leben, und sich vor der Hinrichtung ängstigte, hätte sie längst versucht, zu verhandeln und ihm Informationen zu verkaufen im Austausch für ihr Leben.
    Das bedeutete, der Partner existierte. Und glücklicherweise hieß es auch, dass sie das Ziel von Operation Chastise noch nicht kannten. Die Anlage war inzwischen besser geschützt. Gelang es ihnen, den Partner der Spionin die nächsten vierundzwanzig Stunden von ihr fernzuhalten, würde der Angriff die Deutschen unvorbereitet treffen.
    Dennoch, da war etwas, das er übersah. Ein Puzzleteil saß am falschen Platz, das spürte er.
    Wie sollte er klar denken bei dieser schlechten Luft und den durcheinanderredenden Piloten! Dauernd drängten sich die Stimmen der Piloten vor und behinderten seine Gedanken. Sie sprachen über das Luftkampftraining, das sie heute absolviert hatten.
    Zwischen den Verhören von Nachtauge hatte er vom Boden aus zugesehen. Eines der Flugzeuge hatte eine Fahne im Schlepptau gehabt und versuchte, den anderen zu entkommen, während sie mit scharfer Munition auf die Fahne schossen. Er hatte jeden Moment damit gerechnet, dass versehentlich eine Lancaster getroffen werden würde, oder dass zwei Flugzeuge am Himmel zusammenstießen und abstürzten. Nichts dergleichen geschah. Diese zwanzig Piloten gehörten zu den Besten der Welt. Und sie waren kurz davor, ihr Leben zu riskieren, um den Deutschen einen vernichtenden Schlag zuzufügen. Natürlich waren sie in Unruhe.
    Noch wusste keiner von ihnen bis auf Wing Commander Gibson, für welches Ziel sie trainiert hatten. Eine gute Vorsichtsmaßnahme, das Ziel sogar vor den Piloten geheim zu halten. Womöglich war es allein deshalb Nachtauge verborgen geblieben.
    Harris sagte: »Schließen Sie bitte die Tür.«
    Kenneth Fraser, der als Letzter den Raum betreten hatte, machte die Tür hinter sich zu. Er