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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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wirkte immer noch niedergeschlagen, aber das war auch richtig so, fand Eric, sie hätten es nicht bloß bei einer Rüge belassen müssen, wären sie strenger gewesen, wäre er entlassen worden. Seine hervorragenden Leistungen als Pilot machten ihn kostbar für die Royal Air Force, das hatte ihm – für dieses Mal – den Hals gerettet. Hoffentlich lernte er seine Lektion.
    Harris löste sich vom Tisch, an dem er sich abgestützt hatte, und sagte: »Ich weiß, es ist eine Herausforderung, die Lancaster zu fliegen mit diesem Eisenklumpen von fünf Tonnen unter der Mühle, dicht über dem Boden mitten durchs Feindgebiet und ohne den mittleren Schützen. Aber ihr habt bewiesen, dass ihr dazu in der Lage seid.« Er fuhr sich mit Zeigefinger und Daumen über den Schnauzbart. »Eine Studie des Luftfahrtministeriums zeigt, dass es bei unseren Bombenangriffen nur einer von zehn Piloten in einen Fünf-Meilen-Radius seines Ziels schafft.«
    Die Piloten lachten.
    »Ihr seid besser. Deshalb setzen wir bei euch nicht auf Masse, sondern auf Klasse. Aber seid ihr gut genug, um nachts eine Mauer zu treffen?«
    Es wurde still.
    » Operation Chastise richtet sich gegen die Talsperren in Deutschland, allen voran die Möhnetalsperre. Wie ihr wisst, arbeiten wir erstmals mit rotierenden Bomben. Das verbessert die Flugeigenschaften und hilft beim Aufprall dabei, sie in die Höhe zu heben. Damit vermehrt sich die Anzahl der Sprünge auf dem Wasser. Wir haben alles durchdacht, seit Monaten. Raketen, Torpedos, Fallschirmspringer, ein unbemanntes Flugzeug. Sogar an ein fliegendes Boot haben wir gedacht, vollgepackt mit Dynamit. Aber jeder dieser Pläne erwies sich als nicht durchführbar. Ihr seid unsere einzige Chance. Eure Bomben müssen die Abwehrmechanismen der Deutschen überspringen und exakt an der Mauer ihren letzten Sprung vollenden, bevor sie an der Innenseite der Talsperre hinuntersinken. Durch die Rückwärtsrotation bleiben sie dabei immer im Mauerkontakt. Sie detonieren in neun Metern Tiefe. Der Abwurfzeitpunkt muss exakt stimmen. Die Bombe springt zuerst sechzig Meter, dann immer kleinere Abstände, überspringt die Netze, und schlägt an der Mauerkrone an.«
    »Wie sieht es mit Flak aus?«, fragte einer der Piloten. »Bei der Möhnetalsperre, meine ich.«
    »Luftaufnahmen zeigen Flakstände auf den Schiebertürmen und drei weitere Flakgeschütze auf einer Wiese nordwestlich unterhalb der Möhnesperrmauer. Im Anflug seid ihr etwa dreißig Sekunden lang im Flakfeuer, dann seid ihr über die Mauer geflogen und außer Reichweite. Um die Flakbesatzung einzuschüchtern, verwenden wir für diesen Einsatz hundert Prozent Leuchtspurmunition. Vielleicht können eure Bordschützen ein oder zwei Nester ausschalten. Priorität bleibt aber die Mauer.«
    Ein anderer Pilot sagte: »Darf ich offen eine Frage stellen, Sir?«
    »Natürlich.«
    »Warum schicken Sie uns gegen die Talsperren? Wären die Waffenfabriken nicht effektiver? Die Hoesch-Werke in Dortmund zum Beispiel?«
    Harris hob die Brauen. »Ich erkläre euch, warum euer Angriff Einfluss auf den gesamten Kriegsverlauf nehmen wird. Ihr werdet nicht nur eine Katastrophe größten Ausmaßes im Ruhr- und Möhnetal auslösen, wenn die Talsperren brechen und das Wasser die Städte überflutet. Ihr werdet nicht nur die Moral der Bevölkerung zerschmettern. Zwischen der Möhnetalsperre und Mülheim liegen außerdem dreizehn Wasserkraftwerke mit einer Gesamtarbeitsleistung von zweihundertfünfzigtausend Kilowatt. Selbst wenn nicht alle Kraftwerke durch die Flut zerstört werden, können sie anschließend nicht mehr mit voller Kraft arbeiten, weil sie durch das Flutwasser verschlammen. Außerdem verwenden die Kohlekraftwerke der Region das Wasser aus den Stauseen zum Kühlen, vor allem im Sommer – sind die Seen leer, müssen sie ihre Leistung drosseln. Der moderne Krieg braucht die Industrie. Die Industrie braucht Strom. In den Waffenfabriken des Ruhrgebiets ist es zappenduster und still, wenn wir ihnen den Strom nehmen. Und die Schwerindustrie benötigt das Talsperrenwasser ebenso zur Kühlung wie die Kraftwerke. Hochöfen, Kokereien und Bergwerke können ohne dieses Wasser nicht arbeiten, desgleichen die Chemiewerke nicht.«
    Eric dachte nach. Dass Nachtauge über Operation Chastise im Unklaren war und ihn deshalb im Verhör auszuhorchen versuchte, erklärte einiges, aber nicht ihre Gelassenheit. Niemand, der kurz vor der Hinrichtung stand, verfolgte derart kaltblütig seinen Auftrag. Warum

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