Nachtauge
Deutschbuch.«
Der Schüler zog es aus dem Ranzen und reichte es ihm. Georg blätterte darin, an viele Texte erinnerte er sich, er hatte sie in sorgfältig vorbereiteten Unterrichtsstunden mit den Schülern durchgenommen. Oft allerdings wurde er nachdenklich, er sah die Texte heute anders als damals, kritischer. Mit Schaudern las er das Gedicht Ahoi Matrosen von Helmut Hansen:
Wir fahren bei Sturm in der großen Zeit
mit der Fahne des Reiches am Maste;
wir sind für den Führer zu sterben bereit,
wenn der Tod unser Schicksal erfasste.
Die Fahne weht im Wind voran;
wir fahren durch die Meere;
sie trägt das schwarze Hakenkreuz,
das Kreuz der deutschen Ehre.
Matrosen ahoi, ahoi!
Matrosen ahoi!
Würde er als Lehrer nicht genauso der Partei dienen wie als Lagerleiter? Er bereitete die Schüler darauf vor, willig an der Front ihr Leben zu lassen. Der Lehrplan schrieb das allein schon durch die Textauswahl vor.
Ein blasser, schmalgesichtiger Schüler meldete sich. Als Paulheinz ihn drannahm, fragte er: »Muss der Staat sich nicht auch um die Irren kümmern? Die sind doch genauso Teil vom Volk, und laut Verfassung ist jeder Mensch gleich viel wert.«
Streng blickte der Lehrer in die Runde. »Wer weiß, was daran falsch ist?«
Erwartungsvoll sahen die Schüler nach vorn.
Paulheinz machte ein enttäuschtes Gesicht. »Keiner? Vielleicht möchte mein Kollege, Herr Hartmann, euch aufklären?«
Georg schluckte. Er stand auf und sagte: »Nun, zu allererst haben wir keine geschriebene Verfassung, weil der völkische Staat Gedanken nicht in bestimmte Formen zwängt. Und zweitens erfordert die völkische Grundordnung die Reinhaltung des deutschen Blutes.« Er schämte sich, das zu sagen. Es kam ihm vor, als träufele er den Kindern Gift in die Ohren. »Das ist wichtiger als die Irrenpflege. Überhaupt passt die demokratische Gleichmacherei nicht zur Eigenart und zum Recht des deutschen Menschen.«
»Früher«, ergänzte Paulheinz, »wurden Menschen auf offener Straße überfallen, Häuser in Brand gesteckt und Geschäfte geplündert, Gelder unterschlagen. Das Vaterland wurde beschimpft. Wir können dankbar sein, dass uns Adolf Hitler den Führerstaat geschenkt hat. Eine Frage: In welchem Land wird behauptet, alle Menschen seien gleich, wer von euch weiß das?«
Im Raum wurde es still.
»Niemand?«
Zwei Arme gingen hoch. Paulheinz rief einen strohblonden Jungen auf. Der sagte: »In Amerika, Herr Schmauser.«
Georg setzte sich. Er fühlte sich schmutzig. Wenn Nadjeschka zugehört hätte … Sie wäre furchtbar enttäuscht von ihm.
»Und warum sagt man in Amerika, dass alle gleich sind?«, fragte Paulheinz. »Die Juden und die Amerikaner wollen ein Wirtschaftsleben, in dem der Eigennutz an erster Stelle steht – der Eigennutz soll die Antriebsfeder sein für alles, es soll nur auf den Gewinn, auf den Profit ankommen. Da kann also jeder im Wirtschaftsleben tun und lassen, was er will, das nennen sie ›die Freiheit des Individuums‹, jeder kann seinen Eigennutz befriedigen ohne Rücksicht auf die Gesamtheit, auf die Arbeiter. Findet ihr das gut? Ob die Löhne der Arbeiter zu ihrem Lebensunterhalt ausreichen, ob die Arbeiter in einer Wirtschaftskrise auf der Straße landen, darum muss sich ein Unternehmer in Amerika nicht kümmern, es ist ihm egal. Diese liberalistische Gesinnung« – er drehte sich zur Tafel um und schrieb liberalistisch an – »stammt aus dem Manchestertum. Die Juden wollten die Krankheit dieser Gesinnung auch bei uns einschleppen, aber wir haben uns gewehrt.«
Noch einmal meldete sich der blasse Schüler.
»Jens.« Schmauers Stimme klang leicht gereizt.
»Aber Karl Marx, der dagegen gekämpft hat, war doch auch ein Jude?«
Die Adern an Schmausers Schläfen traten hervor. »Dieser Karl Marx Mardochai wollte die Arbeiter verführen. Er wollte sie nicht befreien, sondern hat ihnen die Herrschaft im Staat versprochen. Das ist völliger Unsinn. Man braucht einen Füh rer, dem alle folgen. Wie sollen Millionen Menschen gleichzeitig herrschen?«
Erleichtert lachten die Schüler. Der blasse Jens bekam rote Wangen.
»Herr Schmauser«, meldete sich Leonhard, »ich muss zum Schulzahnarzt.«
»Dann geh.«
Den Rest der Stunde kämpfte Paulheinz Schmauser auf verlorenem Posten. Konzentrierte Ruhe war nicht mehr herzustellen. Auch Georg hörte ihm nicht zu. Er dachte über den Wortwechsel nach. Als es zur Pause läutete, wäre er am liebsten zu Jens gegangen und hätte ihn ermutigt, weiter solche
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