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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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Unterricht, untermalt vom leisen Kratzen der Federn auf Papier.
    Leonhard schlug das Schulbuch auf. Es war alt, die Ecken waren abgestoßen. Was suchte er im Buch?
    Georg beugte sich hinüber. Frühere Besitzer hatten die Auflösungen überall mit Bleistift dazugeschrieben. Er griff nach dem Buch und schlug es zu. »Das brauchst du jetzt nicht«, sagte er.
    Leonhard errötete.
    Er betrachtete den Klassenschrank. Im Regal standen Bücher wie Goethes Faust und ein Geschichtsbuch, das er immer verwendet hatte: Volk und Führer aus dem Diesterweg-Verlag. Der graue Rücken des Taschenwörterbuchs des Nationalsozialismus war ihm ebenfalls vertraut. Die anderen Bücher hatte er nie gelesen: Adolf Hitler – Ein Mann und sein Volk , Vererbung und Rassenpflege , Krieg und Dichtung .
    Natürlich, es hatte auch Ungutes gegeben in der Vergangenheit, bevor er ins Lager gewechselt war. Wie hatte es ihm widerstrebt, im Geschichtsunterricht zu lügen und zu behaupten, das deutsche Heer sei im Ersten Weltkrieg unbesiegt geblieben. Genauso ärgerte ihn die Vorschrift, den Schülern beizubringen, das Römische Weltreich sei wegen der Rassenvermischungen untergegangen. Humbug war das! Den Griechen hängte der Lehrplan an, sie seien daran gescheitert, vom Führerprinzip abgewichen und durch die Demokratie in ein Parteienhickhack hineingeraten zu sein. Alles nur, um den Nationalsozialismus in ein günstiges Licht zu rücken.
    Im Deutschunterricht hatte er es gehasst, »Nationalsozialistische Weltanschauung in der Dichtung der Gegenwart« unterrichten zu müssen. Romane russischer Autoren wurden aus der Schulbibliothek entfernt, dann auch die Bücher englischer, französischer oder amerikanischer Schriftsteller. Die Schüler sollten vergessen, dass Engländer, Russen und Franzosen ebenso gebildet und liebenswert waren wie Deutsche. Sie sollten sie für dumme, brutale Feinde halten.
    Aber es hatte auch so viele gute Stunden gegeben! Er hatte mit den Schülern die amerikanische Verfassung gelesen und sie mit der Weimarer Verfassung und dem Parteiprogramm der NSDAP verglichen. Er las mit ihnen die Texte der Kriegserklärungen und die Texte der Friedensverträge. Bis der Direktor ihn wegen kritischer Äußerungen zu sich ins Büro zitierte.
    Oh, er freute sich darauf, wieder Karl den Großen zu behandeln, die Merowinger, die Ottonen! Im Deutschunterricht Goethes Faust oder das Nibelungenlied!
    Jetzt wischte Schmauser die Tafel ab. Georg kannte das Gefühl des schmierenden, schmutztriefenden Etwas in der Hand, das einmal ein Schwamm gewesen war, und den Geruch von nassem Kreidestaub. Er vermisste ihn wie die Zeugnisformulare, die Klassenbücher, das Nachdenken am Nachmittag darüber, wie er den Unterricht am nächsten Tag gestalten würde.
    Ein Schüler in der ersten Reihe meldete sich. Er sei fertig, sagte er auf Schmausers Nachfrage. Der Lehrer lobte ihn und trug ihm auf, die Karte einzurollen, die noch von der Vorstunde am Kartenständer hing. »Rassen Europas«, war sie überschrieben. Paulheinz sagte: »Und bring sie bitte in den Kartenraum.«
    Er trug ein Braunhemd mit schwarzem Binder. Auf dem Revers blinkten das Parteiabzeichen und die Ansteck nadel des Nationalsozialistischen Lehrerbundes. Warum setzte er sich so für ihn ein? Plagte ihn ein schlechtes Gewissen? Oder hatte Axel für ihn die nötigen Strippen gezogen?
    Es wurde unruhig in der Klasse. Georg stand auf und ging zu zwei der feixenden Jungen. Sofort verstummten sie.
    Paulheinz Schmauser notierte etwas auf die Innenseite des rechten Tafelseitenflügels. Die Kreide setzte immer wieder mit hellem Klicken auf. »Wie ich höre, seid ihr fertig. Ihr schwatzt wie die Juden. Dann bin ich mal gespannt, ob ihr auch rechnen könnt. Joachim!«
    Der angesprochene Junge erhob sich und stammelte eine Antwort.
    »Falsch! Setzen. Walter!«
    Dieser stand nur auf und schwieg. Etliche Hände gingen nach oben, während er stumm schwitzte.
    Schmauser räusperte sich. »Richard!«
    Der Junge erhob sich und sagte die Antwort her.
    »Sehr gut. Die nächste Aufgabe.« Schmauser klappte mit Schwung die Tafelseite um. Dort stand:
    Der Bau einer Irrenanstalt erfordert 6 Millionen Reichsmark. Wie viele Siedlungshäuser zu je 15 000 Reichsmark hätte man dafür bauen können?
    Georg musste nicht auf die Uhr sehen, er hatte den 45-Minuten-Takt verinnerlicht, er wusste, wann die Stunde vorüber sein würde. Er setzte sich wieder in seine Bank und sagte zu Leonhard: »Gib mir bitte mal dein

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