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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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Fragen zu stellen und sich nicht einschüchtern zu lassen. Stattdessen ging er zum Kollegen nach vorn. Das Klassenzimmer leerte sich.
    Paulheinz Schmauser stöhnte: »Diese kleinen Besserwisser! Die Eltern von Jens waren früher Mitglieder der Zentrumspartei. Dickschädelige Katholiken, ich sage dir, die richten ihr Kind noch zugrunde.«
    »Ich muss zurück ins Lager«, sagte er.
    »Komm doch übermorgen zur Heldengedenkfeier, dritte und vierte Stunde, wenn du kannst. Bis dahin red ich noch mal mit Fliehgeist.«
    »Ist gut, ich versuch’s. Danke für alles, Paulheinz.«
    Im überfüllten Treppenhaus wichen ihm die Jungen respekt voll aus. Hinter ihm tobten sie weiter. Er wollte gerade den Schulhof verlassen, da machte er aus einem Impuls heraus kehrt und ging zur Aula. Er musste Klarheit gewinnen. War die Schule noch der Platz, wo er hingehörte?
    Der Hausmeister stellte Stuhlreihen in dem großen, von dumpfer Stille erfüllten Raum auf. An der Wand war bereits der Leitspruch für die Feier aufgehängt, mit der man die ge fallenen Schüler des Gymnasiums ehrte. In großen Buchstaben stand da: SÜSS UND EHRENVOLL IST ES, FÜRS VATERLAND ZU STERBEN .
    Sicher würden sie wieder Die Fahne von Baldur von Schirach aufsagen, mit den Zeilen: »Du heiligst selbst den Sünder. Heil denen, die in deinem Schatten fallen.« Und die jüngeren Schüler würden sich wünschen, eines Tages auch in dieser Weise als Helden geehrt zu werden. Sie würden sich danach sehnen, endlich auch eine Uniform und eine Waffe tragen zu dürfen.
    Der Hausmeister schob den fahrbaren Radiotisch zur hinteren Wand. Die Gummiräder quietschten.

35
    Wie sie es hasste, in englischer Sprache zu denken. Sie setzte sich auf die Pritsche und massierte ihre Schläfen. Der Feind war in sie eingedrungen, hatte ihre Gedanken erobert.
    Knowlden hatte ihr hart zugesetzt in den letzten Stunden. Er und seine Kollegen wussten genau, wie man einem Menschen Schmerzen zufügte. Noch hielt sie sich. Wie lange sie es verkraften würde, wusste sie selbst nicht.
    Rikoschettierende Kanonenkugeln gab es schon lange. Im 17. und 18. Jahrhundert hatte man Kanonen absichtlich so abgefeuert, dass die Kugel auf dem Wallgang der Feinde entlanghüpfte. So erwischte man mehr Gegner.
    Diesmal würde es Freunde erwischen. Ihr Volk. Weil sie versagt hatte, würde das Ruhrgebiet überflutet werden. Vielleicht ging der ganze Krieg verloren, weil sie nicht schnell genug gewesen war. Ohne das Ruhrgebiet fehlten Munitionslieferungen, neue Panzer, Geschütze, irgendwann war alles aufgebraucht oder zerschossen an der Front, und wenn nichts Frisches nachkam, musste man aufgeben.
    Das durfte nicht passieren.
    Sie wusste, jetzt war der Zeitpunkt gekommen, um ihre letzten Kraftreserven abzurufen. Der Schlüssel dafür war der Hass.
    Nachtauge dachte an den Vater zurück, der nach Mutters Tod nicht mehr zurechtgekommen war und zu trinken be gonnen hatte, sie erinnerte sich an seine Schnapsfahne, die blutunterlaufenen kleinen Augen. Mit welchen Hoffnungen war sie nach England geflohen! Ein neues Land, ein neuer Anfang. In England lebte Vaters Bruder, er sollte sie aufnehmen, zumindest, bis sie ihr Englisch perfektioniert und einen Studienplatz ergattert hatte. Aber der Onkel ließ sie auflaufen, er gab ihr jeden Tag zu verstehen, dass er sie nicht bei sich haben wollte. Seine mürrische Frau versuchte sie auszunutzen, keifte jeden Tag, wenn die Hausarbeiten nicht zu ihrer Zufriedenheit erledigt waren.
    Damals war sie bereit gewesen, England zu vergeben. Sie wollte hier leben und die Sprache lernen, um die Seele des Landes zu verstehen. War willens gewesen, für immer hierzubleiben. Aber das Land hatte sie ausgespien. Nach außen hin taten die Engländer höflich und weltoffen, in Wahrheit jedoch waren sie nur auf den eigenen Vorteil bedacht.
    Sie rief sich ihre Gesichter vor Augen, das teilnahmslose Bernhardinergesicht des Onkels und den streitsüchtigen, spitzen Mund der Tante. Ihr gewinnt den Krieg nicht, dachte sie, ihr nicht. Lieber diente sie einem Land voller Härte und Kraft, statt sich an die vordergründige Kultur und Güte der Engländer zu hängen, hinter der sich doch nur Egoismus verbarg.
    Die Deutschen sollten die Engländer demütigen und ihnen zeigen, wo ihr Platz war in der Hierarchie der Völker. Immer noch gab es zu viele Reiche hier, die trotz der Rationierung Empfänge veranstalteten mit Champagner und Häppchen und stolz in ihrem Bentley herumfuhren und Anzüge trugen aus der

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