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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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kaputter Reifen im Straßengraben. Von dem hab ich den Gummi abgeschnitten. Die Schuhe sind doch ganz kaputt! Ich brauch eine neue Sohle.«
    Er sprach gutes Deutsch. Der Koch unterrichtete die Kinder, freiwillig. Offenbar war dieser Junge ein helles Köpfchen. »Du hast es richtig gemacht.« Georg öffnete ihm die Zimmertür. Drinnen hockten zwei kleine Mädchen verängstigt auf dem Bett der Mutter. Sie hatten das Geschrei gehört. Er schloss die Tür hinter sich. »Ich will euch etwas sagen. Dieser Krieg ist irgendwann zu Ende, und dann könnt ihr das Lager verlassen und mit eurer Mutter in einer richtigen Wohnung leben. Ihr werdet zur Schule gehen, Fahrradfahren lernen und einen Ball zum Spielen haben und richtige Puppen, und es wird gutes Essen geben und Spielkameraden im Haus. Die schlimme Zeit geht irgendwann vorüber. Das könnt ihr mir glauben.«
    Die Kinder sahen ihn mit großen Augen an.
    »Und wisst ihr, warum ich das weiß? Ich bin Lehrer. Und als Lehrer muss ich die Wahrheit sagen.« Er strich dem Jungen über das Haar. »Jetzt ist es elf. In sieben Stunden ist deine Mutter wieder hier. Sie wird stolz auf dich sein, dass du deine Schuhe repariert hast.« Er gab sie ihm. »Ihr seid sehr tapfer, Kinder.« Dann verließ er das Zimmer.
    Als er nach draußen trat, war Plöger verschwunden. Es war ihm gleich, ob der Wachmann wütend auf ihn war. Keinen Tag länger würde er das Unrecht mehr unterstützen.
    In der Bürobaracke suchte er seine persönlichen Dinge zusammen. Kurz geriet er in Versuchung, auch die Briefmarken einzustecken und die Dienstkasse zu leeren, aber er riss sich zusammen und ließ sie unberührt. Er war kein Dieb. Was er tat, hatte mit seinen Überzeugungen zu tun. Er sperrte ab. Da Plöger auch auf sein Rufen hin nicht aus der Wachbaracke kam, schloss er sich selbst das Tor auf. Das Lager ein für alle Mal zu verlassen, hob eine Last von seinen Schultern. Er empfand es als Befreiung.
    Natürlich würden sie einen anderen finden, der die Leitung übernahm. Doch damit hatte er sich lang genug herausgere det. Je mehr Leute sie hatten, die ein Zwangsarbeiterinnenlager oder ein Straflager leiteten, desto mehr von solchen Lagern konnten sie eröffnen. Er würde nicht länger dazu beitragen.
    In der Reichsbanknebenstelle in der Bismarckstraße hob er zweitausend Mark ab. Vierhundert Mark ließ er stehen. Das gesamte Konto leer zu räumen, wagte er nicht, sonst roch die Bankangestellte vielleicht Lunte und benachrichtigte die Gestapo.
    Was würden sie tun, wenn das Geld aufgebraucht war? Würde er eines Tages gezwungen sein, doch zum Dieb zu werden? Hier, wo jeder ihn kannte und er vielleicht sogar mit Hilfe rechnen konnte, war es für ihn und Nadjeschka zu gefährlich. Sie mussten untertauchen. Am besten versteckten sie sich in den Ruinen von Dortmund, bis er ihnen falsche Pässe besorgt hatte.
    Er verließ die Bankfiliale. Sein Blick fiel auf das Realgymnasium. Prächtig wie ein Palast erhob es sich über die umliegenden Häuser. Wie froh war er gewesen, als er von der Oberschule für Mädchen in Arnsberg hierher hatte wechseln dürfen! Wenn er jetzt seinen Posten im Lager hinschmiss, würde er nie wieder in die Schule zurückkehren dürfen. Er war einunddreißig, Lehrer zu sein, Schülern Wissen nahezubringen, war sein Traumberuf. Künftig von der Hand in den Mund zu leben, als Bettler, als Illegaler – war er wirklich dazu bereit?
    Zweifel stiegen in ihm auf. Er war nicht zum Rebellen geboren, war nie ein Abenteurer gewesen. Ohne Sicherheit und ein geordnetes Leben ging er ein.
    Das Fenster des Lehrerzimmers öffnete sich. »Georg, was machst du denn hier? Gut, dich zu sehen.« Paulheinz Schmauser winkte. »Komm mal rauf!«
    Bevor ihm eine Ausflucht eingefallen war, schloss sich das Fenster wieder. Zögerlich betrat er das Schulhaus. Im Foyer fegte der Hausmeister Kehrpulver über die alten Dielen, es roch beißend nach Fußbodenöl.
    Die Hitlerbüste auf dem Podium, das Bild von Hermann Göring, die gelbliche Wandfarbe – all das war ihm vertraut wie die eigene Wohnung. Er grüßte den Hausmeister. Als sei er nie fort gewesen, sah der Hausmeister auf, grüßte zurück und kehrte weiter.
    An der Tür zum Lehrerzimmer wartete Paulheinz. Strahlend bat er ihn herein. Andere Lehrer sahen von ihren Tischen auf und nickten ihm zu. So war das vor zwei Jahren nicht gewesen, als er, um nicht an die Front zu müssen, die Stelle als Lagerführer angenommen hatte. Damals schnitt man ihn , mied ihn, als

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