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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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Savile Row. Sie hatte all das in London gesehen. Diesen Wichtigtuern würde die Freude vergehen, wenn erst einmal die Wehrmacht anrückte.
    Der Vater hatte ihr erzählt, dass die ersten Worte der Mutter nach ihrer Geburt gewesen waren: »Ein Mädchen? Die ganze Mühe umsonst!« Sie erlebte es nicht mehr, aber den anderen würde sie zeigen, wozu ein Mädchen in der Lage war.
    Nachtauge stand auf. Sie bog ihre Glieder, streckte sich, bis es in den Gelenken knackte. Die Wut hatte ihre Müdigkeit für den Moment vertrieben, das Herz pumpte kräftig, die Gedanken waren klar.
    Jeden Zentimeter der neuen Zelle sah sie sich an und überlegte, ob er ihr nützlich sein könnte. Ein Fenster gab es nicht. Die nackte Glühbirne an der Decke? Das Kabel, von dem sie herabhing?
    Sie ging in die Ecke, wo die Toilette stand. Der Deckel des Beckens war aus Holz, mit Flügelmuttern festgeschraubt. Sie löste die Muttern, hob den Deckel in die Höhe und schlug damit auf das Abflussrohr. Wieder und wieder. Bis sie es endlich zertrümmert hatte. Stinkende Brühe ergoss sich über den Boden.
    Sie suchte eine Scherbe heraus. Schon schepperte ein Schlüsselbund an der Tür. »Was macht sie da drin?«, fragte eine Stimme.
    Eine andere sagte: »Die muss ausgerastet sein. Sei vorsichtig!«
    Eilig packte sie mit den Zähnen ihren Ärmel und zeriss den Stoff. Sie zog, bis der halbe Ärmel sich mit einem Fauchen vom Hemd löste. Den Rest wickelte sie um die untere Hälfte der Scherbe, sodass sie das Stück fest in der Hand halten konnte, ohne sich zu schneiden.
    Die Tür ging auf. Zwei Soldaten betraten die Zelle mit vorgehaltenem Revolver. »Stell dich an die Wand«, verlangte der erste, »die Hände hinter …«
    Sie tauchte unter der Schusslinie seines Revolvers hindurch, packte ihn an den Haaren und bog seinen Kopf nach hinten. Bevor er die Waffe entsichern konnte, hatte sie ihm bereits die Kehle aufgeschlitzt.
    Dem anderen Soldaten rammte sie die Scherbe in den Bauch und stieß nach oben in Richtung seines Herzens. Er brach in ihren Armen zusammen.
    Kein Schuss. Das war gut. Sie wischte ihre Hände an den Uniformen ab und schlich in den Flur. An der Tür nach draußen blieb sie stehen und spähte hinaus.
    Der Mond schien hell, und es waren etliche Scheinwerfer angeschaltet. Auf den Rollfeldern bereitete sich das Geschwader für den Start vor. Zum Hauptgebäude waren es zwanzig Meter. Wenn sie sprintete, würde sie drei, vier Sekunden brauchen – andererseits lenkte sie so sicher die Blicke auf sich, irgendwer sah trotz der Nachtdämmerung die rasche Bewegung. Wenn man verborgen bleiben wollte, war der Faktor Geschwindigkeit nicht zu unterschätzen. Tiere machten sich durch absolute Bewegungslosigkeit beinahe unsichtbar, oder sie schlichen so geschmeidig, dass man sie kaum wahrnahm.
    Sie drückte sich an der Hauswand hinter einigen Büschen entlang. Eine Gruppe von Männern näherte sich. In einer fließenden, langsamen Bewegung kauerte sie sich nieder.
    Einer der Männer sagte: »Früher bin ich oft mit Stan geflogen, ich mochte ihn. Er hat vor jedem Start gesagt: ›Jetzt heißt es wieder: sieben Männer gegen das Reich.‹«
    »Halt die Klappe.«
    Sie spähte aus dem Gebüsch. War das nicht Guy Gibson, der den klein gewachsenen Mann zurechtgewiesen hatte, Gibson, das Flieger-As? Der Kleine musste Bombenschütze sein, dafür nahmen sie nur Kleinwüchsige, die lagen vorn auf dem durchsichtigen Flugzeugboden vor der Kanzel, neben sich das Bombenzielgerät und auf der anderen Seite die Auslösehebel.
    »Ist doch so! Da oben sind wir allein. Jede Crew für sich. Und die Deutschen werden tun, was sie können, um uns vom Himmel runterzuholen.«
    Sie stiegen die Leiter eines Lancaster-Bombers hinauf. Jemand rief: »Mr Gibson!«
    Guy Gibson drehte sich um. Ein Blitz erhellte die Nacht. Der Truppenfotograf nahm die Kamera in die linke Hand und salutierte.
    Der Fliegerheld verschwand im Inneren des Bombers, dann streckte er noch mal den Kopf heraus und rief: »Schick meiner Frau einen Abzug, ja?«
    Die Mannschaft im Flugzeug lachte, und der Fotograf stimmte mit ein. Gibson zog die Leiter hoch. Die Tür knallte zu. Kurz darauf liefen die Motoren an. Ebenso bei vier weiteren Maschinen.
    Höchste Zeit, die Warnmeldung abzusetzen. Unter dem Gedröhne der Rolls-Royce-Motoren schlich sie geduckt zur Ecke des Hauptgebäudes. Der Eingang würde bewacht sein oder zumindest häufig frequentiert werden. Sie wandte sich der Rückseite des Hauses zu. Irgendwo

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