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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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habe er eine ansteckende Krank heit. Er hatte als feige gegolten.
    Paulheinz sagte: »Wir wollen dich wiederhaben, Georg. Dieses Barackenlager, das ist doch nichts für dich. Hör zu, ich hab mit Oberstudiendirektor Fliehgeist gesprochen, und er hat noch mal bei der Schulaufsichtsbehörde in Münster vorgesprochen. Die Sache sieht gut aus.«
    Seine Brust weitete sich vor Glück. Endlich bekam er wieder festen Boden unter die Füße.
    »Du meinst, ich könnte als Lehrer arbeiten und gleichzeitig als kriegswichtig gelten?«
    Paulheinz beugte sich vor und raunte. »Keiner von uns hier gilt als kriegswichtig. Aber ich kenn einen Arzt, der einem eine Herzkrankheit attestiert. Dann bist du untauglich für die Front. Jeder hier weiß, dass du ein guter Lehrer bist. Die Schüler haben dich gemocht, und du hattest deine Klasse immer im Griff. Wir brauchen dich!«
    Er hörte im Lager auf, er tat wieder etwas Sinnvolles, etwas Gutes. Auf Nadjeschka würde er schon irgendwie aufpassen, sie blieb bei Großvater. Und dass er häufiger seinen Großvater besuchte, das verstand doch jeder. Niemand würde von ihr erfahren. Er stammelte: »Ich bin ein wenig aus der Übung, fürchte ich.«
    »Ach was!« Paulheinz lachte. »Einer wie du kommt nicht aus der Übung, du bist durch und durch Lehrer, das verlernt man nicht.«
    Als es zum Ende der Pause klingelte, fuhr Paulheinz zusammen. »Ich muss in den Unterricht, willst du so lange hier warten? Oder du kommst mit. Warum nicht? Dann sagen wir Fliehgeist gleich, dass du hospitiert hast und im aktuellen Stoff drin bist. Müssen ihm ja nicht auf die Nase binden, dass es Mathe war.« Er zog ihn plaudernd mit sich. »Wir haben jetzt eine abschließbare Kleiderkammer. Mit dem Diebstahl von Jacken und Mützen ist es endgültig vorbei. Ach, ich bin froh, dass du wieder da bist. Die Untertertianer werden gleich besser spuren, wenn du mit drinsitzt. Du behältst die Jungen in den hinteren Bänken im Blick, ja?«
    Ehe er es sich versah, stand Georg im Klassenzimmer, und knapp dreißig Jungen erhoben sich und grüßten: »Heil Hitler!« Es war wie eine lang ersehnte Heimkehr. Am liebsten hätte er sich gleich an das Lehrerpult gestellt und eine Unterrichtsstunde über Friedrich den Großen abgehalten.
    Paulheinz Schmauser erwiderte den Gruß der Schüler. Dann sagte er: »Ein Lehrerkollege, Georg Hartmann, wird heute hospitieren. Setzt euch!« Er wandte sich mit gedämpfter Stimme an Georg: »Du kannst dort hinten neben Leonhard Platz nehmen.«
    Auf dem Weg durch das Klassenzimmer bestürmten ihn Dutzende Erinnerungen. Die grün lackierten Pulte der Schulbänke, die Federhalterrinnen, das Porzellantöpfchen in jedem Tisch mit seinem bleiernen Schiebedeckel. An den Rändern des Töpfchens waren die Tische mit Tinte befleckt, weil die Schüler die Feder nach dem Eintauchen immer am Töpfchenrand abstreiften, damit nicht zu viel Tinte anhaftete und ins Heft kleckste. Das hinterließ seine Spuren.
    Die Wand war bis zur Brusthöhe mit abwaschbarer Ölfarbe in einem Ockerton gestrichen, darüber hing das obligatorische Hitlerbild wie in jedem Klassenzimmer, Hitler hielt energisch die rechte Hand in die Hüfte gestemmt, unterschrieben mit: »Ein Volk, ein Reich, ein Führer!« Das würde er schon aushalten. Ob der Kaiser da hing oder der Führer, spielte keine Rolle.
    Er setzte sich. Dutzende Kerben waren in die Bank geschnitzt. Aus dem Tintentöpfchen lugte Bonbonpapier. Er deutete darauf und sagte: »Leonhard«. Gehorsam fischte der Junge es heraus und stopfte es in seine Hosentasche.
    Paulheinz Schmauser befahl: »Wir schreiben: Eine Panzerabteilung bricht um sechs Uhr früh aus ihrem Quartier auf und fährt mit fünfundvierzig Stundenkilometer. Gleichzeitig mit ihr bricht auf derselben Straße zweiundzwanzig Kilometer entfernt eine Kraftradschützenabteilung auf, die fünfundsechzig Kilometer in der Stunde fährt. a) Wie weit muss sie fahren, bis sie die Panzerabteilung einholt? b) Um welche Uhrzeit findet dies statt?«
    Der Bursche neben ihm schien reiche Eltern zu haben, er besaß einen Füllfederhalter mit Tintenvorrat, musste die Feder nicht mehr ins Fässchen eintauchen. Beim Notieren der Aufgabe verschrieb er sich. Fahrig löschte er mit »Tintentod« das falsche Wort, dessen Alkoholgeruch stach in Georgs Nase.
    »Noch Fragen?« Paulheinz Schmauser ließ den Blick über die Klasse schweifen.
    Die Jungen schwiegen.
    »Ihr habt fünf Minuten.«
    Wie hatte er sie geliebt, diese konzentrierte Stille im

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