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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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gings. »Ich hab die Kugel im Gesicht gespürt wie eine heiße Hand.«
    »Hätte ich sie nicht erschossen, wären wir morgen beide nicht mehr am Frühstückstisch erschienen.« Er sah zum Funk gerät. »Hat sie die Deutschen gewarnt?«
    Sprigings fuhr sich mit der Hand über die Wange, wo die Kugel vorbeigezogen war. »Weiß nicht. Ich sprech kein Deutsch.«
    »Hat sie das Wort ›Möhne‹ gesagt?« Er vergewisserte sich: Das Funkgerät war auf Hören, nicht auf Senden gestellt. Die Deutschen kriegten nichts mit.
    »Ich hatte furchtbare Angst. Ich konnte nicht … Da ist überall Blut an ihrer Kleidung! Wer weiß, wie viele sie schon umgebracht hat!«
    Soldaten kamen den Flur entlanggerannt.
    Eric schaltete das Funkgerät aus.
    »Was machen Sie da?«
    »Eine Entscheidung treffen.«
    Sprigings sah ihn bedeutungsschwer an. »Wenn sie es denen gesagt hat …«
    »Dann geht das Geschwader zur Hölle. Ich weiß.«
    Die Schritte der Soldaten verstummten. Dafür krachte die Tür auf, und die Läufe einer halb automatischen Waffe, zweier Revolver und eines Gewehres richteten sich drohend in den Raum.
    Eric hob die Hände über den Kopf. »Nicht schießen! Die Agentin ist tot.«
    Air Chief Marshal Harris drängte sich an den Soldaten vorbei. Er sah vom Funkgerät zur Leiche und zurück. »Wir brechen die Operation ab«, sagt er. »Die Geschwader sollen umkehren.«
    »Das Funkgerät war aus«, sagte Eric. »Sprigings war noch nicht so weit. Wir haben Nachtauge rechtzeitig aufgehalten.«
    Harris starrte immer noch zweifelnd auf das Funkgerät. »War sie allein hier?«
    »Sprigings war die ganze Zeit bei ihr«, sagte Eric. »Sie hat ihn bedroht und wollte, dass er das Funkgerät zum Laufen bringt. Sie hat noch keine Warnung durchgegeben.«

36
    »Es ist bald Mitternacht, Großvater.« Georg gähnte. »Bist du nicht müde? Wir sollten uns schlafen legen.« Er täuschte ein weiteres Gähnen vor. Er brannte darauf, endlich mit Nadjeschka allein zu sein und ihr von der Sache mit dem Schuldienst zu erzählen. Ihre Meinung zu hören würde ihm helfen, Klarheit darüber zu gewinnen, ob er wieder in der Schule anfangen sollte oder nicht.
    »Ach was, ich bin noch munter.« Großvater sah Nadjeschka an, als habe er sich in sie verliebt. »Sag, Mädchen, und wie habt ihr nun die Hühner gerettet?«
    »Wir haben sie eingefangen und in den großen Brotbackofen gesteckt. Im Dunkeln waren die Hühner still. So sind sie den Kommissionären entgangen. Mehl haben wir auch versteckt. Wir haben es in zwei Säcken in den Brunnen runtergelassen. Die sind zwar nass geworden, aber im Inneren blieb einiges Mehl trocken, das konnte man später noch verwenden. Außerdem habe ich Kartoffeln im Heuhaufen vergraben.«
    »Die Kommissionäre haben sich nicht gewundert, dass dein Onkel nichts hatte?«
    »Die haben genug gefunden, was sie mitnehmen konnten, die Stühle, die Möbel, das Haus war hinterher erschreckend leer. Aber wir hatten ein Gefühl von Freiheit, weil wir Mehl und Hühner und Kartoffeln retten konnten. Und wir waren ja nicht die Einzigen! Die Kommunisten haben auch den anderen Großbauern alles weggenommen, und die deutschen Siedler verloren Haus und Hof. Am Ende waren meine Eltern mit dem bisschen, was wir hatten, besser dran als Onkel Dmytro, der immer reich gewesen war. Keiner konnte sicher sein, dass es ihn nicht treffen würde. Von einem Tag auf den anderen galt man als Staatsfeind und wurde abgeholt. Es hieß immer, die Gefangenen kommen weit weg in ein Lager, aber jeder wusste, dass sie erschossen wurden. Man hat nie wieder etwas von ihnen gehört.«
    Großvater griff nach ihrer Hand. »Hattet ihr nicht furchtbare Angst?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Mutter hat mir beigebracht, mich nicht ständig zu fürchten. Angst macht einem alles kaputt. Angst lässt einen das Herz verlieren, sagt sie immer.«
    Deshalb wirst du es schaffen, dachte Georg. Wir werden es schaffen. Nadjeschka war so jung, und doch besaß sie eine Kraft, die ihn wieder und wieder verblüffte. Großvater blühte richtig auf in ihrer Nähe. Er würde ihm nichts sagen vom Lager, bald war es ja auch keine Lüge mehr, dass er Lehrer war. Er würde es wieder sein.
    Das Licht der orangeroten Stehlampe legte einen warmen Schein auf Nadjeschkas Gesicht. Hier war sie nicht Nummer 13 849, sondern die Frau, die er liebte. Und mit jeder Minute liebte er sie mehr. Großvater sollte sie endlich freigeben, sie hatten so viel zu besprechen! Er stand auf und streckte sich. »Das war ein

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