Nachtauge
war.«
In Günne unterhalb der Sperrmauer riss das Wasser die Schützenhalle um und zersplitterte ihre Wände. Es strömte in die Straßen, zerbrach die Fenster und spülte in die Häuser. Zu Dutzenden ertranken die Menschen. Schreie wurden in der weißen Gischt erstickt.
Oberförster Wilkening fluchte. Die Telefonleitung war tot, auch in seiner Wohnung. Sie lag erhöht und blieb vom Wasser verschont, aber er hörte die Flut talabwärts donnern. Er musste dem Fernamt in Soest die Katastrophenwarnung durchgeben, Nummer 0. Das Wählen ging ganz schnell, doch das half nichts, wenn keine Verbindung zustande kam! Das Fernamt verfügte über genug Personal, um die Städte in der Reihenfolge ihrer Gefährdung anrufen: Neheim, Werl, Fröndenberg, Menden, Schwerte, Westhofen. Die Leute schliefen ruhig, während der Tod auf sie zueilte in Form einer Wasserwand, jemand musste sie schließlich warnen!
Er leuchtete mit der Taschenlampe aus dem Fenster. Man konnte nicht mehr ins Möhnetal sehen, überall standen die Nebelschwaden. Das Wasser knickte Hochspannungsmasten um und verschluckte sie, er sah, wie sie im Nebel noch einmal aufblitzten, und hörte wütendes Knallen. Wo gab es noch ein Telefon?
Der Bahnhof! Hastig holte er sein Fahrrad aus dem Schuppen und fuhr los. Der Dynamo jammerte am Reifen, während er wie wild in die Pedale trat. Wenn jetzt etwas auf der Straße lag, ein Ast oder ein rostiges Autoteil, er würde mit voller Geschwindigkeit auffahren und sich das Genick brechen.
Die Beine brannten und die Kehle schmerzte ihm vom stoßweisen Atmen. Als er den Bahnhof erreichte, warf er das Fahr rad hin und stürmte zur Tür der Wachstube. Abgeschlossen, natürlich. Er nahm Anlauf und trat dagegen. Noch einmal. Das Holz knirschte. Er trat und trat, bis das Schloss aus der Tür brach. Der Lichtschalter funktionierte nicht. Im Mondlicht, das durch das Fenster hereinfiel, fand er das schwarze Telefon. Er nahm den Hörer ab – ein Freizeichen. Hier gab es nicht die Sonderleitung zum Fernamt Soest. Er wählte das Amt Körbecke. »Katastrophenhochwasser«, japste er, »rufen Sie in Soest an, sofort! Die Möhnetalsperre ist gebrochen.«
Seit einer halben Stunde hatten sie keinen Strom mehr im Postamt Soest. Werner Lauenburg entzündete eine weitere Kerze. Die Telefone funktionierten noch, und der Fernmeldebereich musste rund um die Uhr besetzt sein, also würde er hier ausharren, bis die Morgenschicht kam und man sich um die Stromleitungen kümmern konnte. Sicher ein Akt der Sabotage, irgendwer hatte sie gekappt.
Das Telefon klingelte. Er nahm ab. »Fernmeldeamt Soest, Lauenburg am Apparat, was kann ich für Sie tun?«
»Hier ist Amt Körbecke, rufen Sie Neheim an, schnell! Die Talsperre ist gebrochen. Wir haben ein Katastrophenhochwasser. Ich versuche es währenddessen in Menden.«
»Verstanden«, sagte er und legte auf. Mit zitternden Fingern wählte er Neheim an. Er lauschte in den Hörer. Nichts, nur ein Knacken und Rauschen. Er meinte, die Flut hören zu können, das Brausen des Wassers, das alle Hilfeschreie übertönte. Die Leitung ins Fernsprechamt Neheim ging über Menden, vielleicht stand dort schon alles unter Wasser, aber Neheim konnte man noch warnen, es gab eine zweite Leitung. Er wählte die andere Nummer.
»Polizeiverwaltung Neheim, Sie wünschen?«
»Hier ist Lauenburg, Fernsprechamt Soest. Bei Ihnen trifft jeden Moment eine furchtbare Flutwelle ein. Die Talsperre ist gebrochen. Warnen Sie die Bevölkerung!«
Stille in der Leitung.
»Sind Sie noch da?«
»O mein Gott. Wir sind auf so etwas nicht vorbereitet. Wir hatten Luftalarm, die ganze Ortschaft sitzt in den Kellern. Wie soll ich denen sagen, dass sie nach draußen müssen, auf die Hügel?«
»Läuten Sie die Kirchturmglocke, tun Sie irgendwas, retten Sie wenigstens ein paar!«
Dann war auch diese Leitung fort.
Das beschauliche mittelalterliche Kloster Himmelpforten hatte fast 600 Jahre lang seine Klosterglocke durch das Möhnetal läuten lassen. Von Adelheid, der Gemahlin Graf Gottfrieds III . von Arnsberg, gegründet, vom Erzbischof Konrad von Köln bestätigt und von Papst Innozenz IV. unter seinen Schutz gestellt, hatte es über Jahrhunderte Zisterzienserinnen beherbergt, die vor allem dem Landadel und dem Soester und dem Werler Stadtadel entstammten. Sie hatten ein Gasthaus errichtet, ein Krankenhaus, eine Ölmühle, eine Mehlmühle, eine Schneidemühle.
In dieser Nacht endete die Geschichte von Himmelpforten. Eine Sturzwelle
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