Nachtauge
überflutete die Kirche, sie begrub den Barockhochaltar aus Alabaster, drängte die Kirchenbänke in eine Ecke und zerdrückte sie dort. Bald ragte nur noch der Kirchturm aus der schäumenden Flut. Er hielt dem donnernden Strom stand, Minute um Minute. Schließlich verlor er den Kampf, er neigte sich und stürzte mit einem letzten Anschlag der Glocke in die Fluten. Während seine Kirche versank, versuchte der Pfarrer gegen das Wasser anzukämpfen, das in den Luftschutzbunker spülte, und ertrank.
Wie konnte ein Greis so aufmüpfig sein? Ein Fausthieb würde genügen, ihn für alle Zeiten niederzustrecken: Wusste er nicht, wie unterlegen er war? Annelieses Großvater schimpfte und schimpfte und schimpfte. Das ging doch nicht an, dass er sich von ihm beleidigen ließ vor seinen Männern! Der Alte legte es darauf an. Er wollte es nicht anders. Er würde ihn züchtigen müssen in der Steinwache. Diese Nacht überlebst du nicht, Freundchen, dachte Axel.
Sie brachten die drei die Treppe hinunter. Trude Schadewaldt öffnete ihre Tür, sie wollte wohl gerade in den Luftschutzkeller gehen. Erschrocken schlug sie sich die Hand vor den Mund.
Als sie unten auf die Straße traten, hörte er ein eigentümliches Rauschen und Pfeifen. Was schickten die Alliierten da für Flugzeuge? Er trieb die Männer zur Eile an, hieß sie die Gefangenen verstauen und einsteigen. Er selbst setzte sich ans Steuer des Mercedes, zündete, schaltete die Scheinwerfer ein und verließ den Barthold-Cloer-Weg.
Seit dem Luftalarm war Rex nicht mehr zu beruhigen. Der Schäferhund jaulte leise, lief im Kreis, sah hilfesuchend zu sei nem Herrn auf, ging ein paar Schritte, stellte die Ohren auf und zitterte vor Aufregung am ganzen Leib. Es war nicht sein ers ter Alarm, am unangenehmen Signalton konnte es nicht liegen.
Robert Oestreicher kraulte Rex am Hals, er strich ihm tröstend über das Nackenfell. Das Verhalten seines Hundes beunruhigte den alten Wachmann. Hunde besaßen einen schar fen Sinn für Gefahren. Hatten es die Bomber diesmal auf Neheim abgesehen, konnte Rex so etwas vorausahnen?
Das Barackenlager verfügte über keinen Luftschutzbunker. Aber der Vorratskeller unter der Bürobaracke würde etwas Schutz bieten. Nur wie sollte er da hineingelangen? Den Schlüssel hatte Lagerführer Hartmann, und der war seit Plögers Schicht nicht mehr hier gewesen. Er kramte den Seitenschneider aus dem Werkzeugkasten. Vielleicht ließ sich das Schloss irgendwie knacken.
Er stand auf. »Komm, Rex. Wir schauen mal, was da los ist.« Er öffnete die Tür der Baracke. Rex hatte es so eilig, hinauszugelangen, dass er sich zwischen seinen Beinen hindurchdrängelte.
Der Mond schien klar, es war eine helle Nacht. Feuchtigkeit lag in der Luft, als würde es bald regnen. Dabei war der Himmel wolkenlos. Ein seltsames Rauschen war zu hören, ein Zischen wie von einem Fernzug.
Er trat in eine Pfütze. Wie kam die hierher? Es hatte nicht geregnet. Erstaunt sah er, dass die Pfütze sich verbreiterte, sie wurde zu einem kleinen Rinnsal. Das Rauschen wuchs zu einem Grollen an.
Der Staudamm!
Er rannte zu den Baracken. »Raus hier! Alle raus!« Rex bellte. Wenn eine Flutwelle drohte, war man am Möhneufer völlig ausgeliefert. Sie mussten den Totenberg hinauf, wenn sie ihr Leben retten wollten.
Müde traten die Frauen nach draußen.
Am Horizont rollte eine schwarze Wand heran, eine Wasserlawine. Sie bestand aus mehreren Stufen, wie Terassen, von denen sich eine vor die andere schob. Die Frauen kreischten, sie rannten zum Tor. Hastig schloss er es auf. Aus den sechzehn Baracken kamen immer mehr Arbeiterinnen, mehr als tausend waren es, stauten sich vor dem Ausgang.
Er drängelte sich durch die Menge und rannte zum Zaun auf der Seite des Wiedenbergs. Mit dem Seitenschneider knipste er den Draht durch, bis ein Loch entstand, er rief: »Hierher! Hier geht es auch raus!« Noch bevor die ersten Frauen da waren, bugsierte er Rex hindurch. »Los, rette dich, mein Kleiner.« Er erweiterte das Loch. Dutzende Frauen krochen hindurch, ihre Kleider blieben hängen und rissen, sie schürften sich die Haut auf am Draht, aber all das war egal, sie zwängten sich nach draußen und rannten auf den Wiedenberg zu.
Das Rauschen und Krachen kam näher, es hallte schauerlich von den Berghängen wider. Die schwarze Wand fraß alles auf, Häuser und Autos, die Lichter erloschen in ihr. Holzbalken zersplitterten, Bäume wurden entwurzelt und mitgerissen.
Inzwischen war das Loch von einer
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